von Friedrich Dieckmann
Hans Pischners Leben umspannte die ganze deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts und reichte noch weit hinein in das einundzwanzigste. Er stammte aus Breslau, geboren 1914 an der Schwelle des Ersten Weltkriegs in einer Familie, in der er dem Vater, der Klavierstimmer war, heranwachsend zur Hand ging, ohne beim Stimmen bleiben zu wollen. Auf eigene Faust nahm er Klavier- und dann in Berlin Cembalounterricht; damit hatte er das Instrument gefunden, dem sein künstlerisches Leben fortan galt.
Hitlers Krieg warf ihn erst an die West-, dann an die Ostfront; nach Kriegsende im Baltikum von der Roten Armee gefangen genommen, erlebte er Sieger, die die Angehörigen jener Armee, die ihr Land mit ungeheuren Opfern überzogen hatte, menschlich behandelten. Zuletzt noch Leutnant geworden, erfuhr er die Spaltung unter den gefangenen Offizieren: in die, welche ihr Feindbewusstsein aufrechterhielten, und jene, die mit dem Frieden ernst machten, indem sie sich von den Zwängen lösten, die der Krieg über sie verhängt hatte. Das fiel dem Dreißigjährigen leicht; er kam zu einem Antifa-Kursus, der ihm eine neue geistige Welt eröffnete. Unter Anleitung deutscher und russischer Kommunisten studierte er den Sowjetmarxismus, nicht ohne Schwierigkeiten mit Begriffen wie Diktatur des Proletariats und demokratischer Zentralismus; beides kam ihm etwas sonderbar vor. „Aber dann“, heißt es in seinen in zwei Zeitaltern und zwei Fassungen erschienenen Erinnerungen, „lernte ich auch den demokratischen Zentralismus begreifen.“
Es verschlug ihn nach Weimar, wo ihn ein Breslauer Freund als Dozent an die Musikhochschule berief. Er findet, nach langer Unterbrechung, zu seinem Instrument zurück; später, als er schon Vizeminister für Kultur geworden ist, findet er sogar Zeit für eine musikwissenschaftliche Dissertation, die dem Werk Rameaus gilt, seines – außer Bach – erklärten cembalistischen Favoriten. 1954 beruft der Kulturminister Becher, der sich in einem Dauer-Clinch mit seinem linientreuen Stellvertreter Abusch befindet, Pischner zum Leiter des Musikressorts; 1956 wird er einer der Vizeminister und bleibt es, immer wieder im Konflikt mit linken Dogmatikern, bis 1962. Dann gibt Max Burghardt sein Amt als Intendant der von der Grenzschließung des Jahres 1961 schwergetroffenen Deutschen Staatsoper auf; Hans Pischner wird sein Nachfolger. Im neuen Amt dauert es nicht lange, bis der überaus selbständig agierende Opernchef ins Observierungsvisier des MfS gerät.
Gleich am Anfang eröffnet er mit den „Sieben Todsünden der Kleinbürger“ eine neue programmatische Linie, die sich mit Brechts und Weills „Mahagonny“-Oper in der Regie von Fritz Bennewitz fortsetzt. Sie bildet eine ästhetische Alternative zu dem psychologischen Realismus, den Walter Felsenstein und Götz Friedrich an der Komischen Oper praktizieren, anhaltend erfolgreich, aber mit Anzeichen schleichender Entkräftung. Felsenstein hat seit Jahren Paul Dessaus „Puntila“-Oper in der Schublade, Hans Pischner führt das Werk mit Reiner Süß in der Titelrolle 1966 in der Regie von Ruth Berghaus auf; die Inszenierung setzt den über siebzigjährigen Komponisten in einer Weise durch, vor der auch Walter Ulbricht kapituliert, der von der Aufführung „eine neue Geschichte des Opernschaffens“ datiert. „Der Klassenkampf“, konstatiert er, „wird in heiterer Form in die Oper gebracht.“
Ein Jahr später folgt ein Paukenschlag: die „Elektra“ der Berghaus auf einem blutbefleckten Holzpodest mit sichtbar aufgestellten Bühnenscheinwerfern daneben. Es gibt lautstarke Proteste, aber der Intendant hält zu der Regisseurin; er bereitet ihrer Weiterarbeit die Bahn, die sich 1968 triumphal erfüllt: mit dem „Barbier von Sevilla“ in der Ausstattung Achim Freyers, mit Sylvia Geszty, Wolfgang Anheisser, Reiner Süß, Peter Schreier in den Hauptrollen. Mit dieser Aufführung, die sich noch heute, nach achtundvierzig Jahren, in immer wieder erneuerter Frische im Repertoire der Staatsoper behauptet, hatte der Intendant einem Musiktheater zum Durchbruch verholfen, auf das er sich schon im Kindesalter vorbereitet hatte: durch das ihm von seinen fürsorglichen Eltern geschenkte Puppentheater. Zwei Dessau-Uraufführungen des Teams Berghaus/Reinhardt folgen, „Lanzelot“ auf ein Libretto von Heiner Müller und „Einstein“ mit Theo Adam in der Titelrolle auf einen Text von Karl Mickel. Es ist ein Höhepunkt im Werk des Komponisten und im musikalischen Theater des 20. Jahrhunderts.
In allen diesen Aufführungen hatte Otmar Suitner am Pult der Staatskapelle gestanden, der aus Tirol stammende Dirigent, den der Intendant 1965 aus Dresden abgeworben hatte. Fortan konnte von einem Pischner-Suitner-Ensemble die Rede sein. Als eine künstlerische Ehe hat Pischner die Verbindung zwischen ihm und Suitner bezeichnet; an ihrem Anfang hatte eine „Così fan tutte“ gestanden, die man nicht leicht besser besetzen konnte. Noch davor: „Hänsel und Gretel“, diese Fortsetzung der „Meistersinger“ im deutschen Wald; der Intendant hielt Humperdincks Partitur mit Recht für genial. Sein Spielplan war so vielseitig wie denkbar angelegt; der Brechtlinie, in die sich Weill und Dessau, Bennewitz und Berghaus einreihten, stand eine Wagner-Linie gegenüber, die zu einer intensiven Kooperation mit dem neuen Bayreuth der Wagner-Enkel führte. Sie ermöglichte es, dass auch in sechziger Jahren nicht nur Solisten und der GMD Suitner bei den Festspielen mitwirkten, sondern auch zahlreiche Orchester- und Chormitglieder. Mozart stand immer im Mittelpunkt, und zu allem dem kam das entdeckungsfreudige Interesse an der alten und neuen russischen Oper. Es reichte von Mussorgski und Rimski-Korsakow bis zu Prokofjews „Feurigem Engel“ und zwei von politischen Verdikten umwitterten Opern des jungen Schostakowitsch, „Die Nase“ und „Katarina Ismailowa“. Der Komponist kam zu der Premiere von Werken angereist, die er kaum je so gut aufgeführt gefunden hatte.
In all diesen Jahren blieb Pischner seinem angestammten Beruf treu, das Cembalo war ihm Ausgleich und Gegenwelt zu den Anforderungen sich häufender Ämter. Er musizierte im Team (das Zusammenwirken mit David Oistrach war ein Höhepunkt), und er spielte solistisch; zu seinem 100. Geburtstag präsentierte Berlin Classics eine Kassette, die auf zehn CD’s fast alle seine Bach-Einspielungen enthielt, darunter das Brillantfeuerwerk des Italienischen Konzerts und der Chromatischen Fantasie und Fuge.
Einundzwanzig Jahre war er im Intendantenamt, als er es 1984 niederlegte; war der Widerstand gegen seine Amtsführung durch eine Premiere angefacht worden, die sich als seine letzte herausstellte? Sie betraf Pfitzners „Palestrina“, das 1917 uraufgeführte Werk eines Komponisten, der auch nach 1945 noch schrecklichen politischen Unsinn von sich gegeben hatte. Aber das mochte nicht der einzige Grund obrigkeitlichen Unbehagens gewesen sein. Hans Pfitzners Oper gleicht den „Meistersingern“ darin, dass auch sie von Kulturpolitik handelt, aber nicht in einer freien Reichs- und Bürgerstadt, sondern unter römisch-katholischen Auspizien. Da wird der Meister verhaftet, weil er nicht komponieren will, was der Kardinal vorgibt, und auf dem Konzil gibt es erbitterte musikpolitische Auseinandersetzungen; das alles muss den Kleingeistern an der Spitze wie ein Spiegel eigener Amtswalterschaft vorgekommen sein.
Pischners Nachfolger an der Spitze der Staatsoper war ein Mann des Sicherheitsapparats, er selbst, der 1981 ZK-Mitglied geworden war, amtierte weiterhin als Präsident des DDR-Kulturbunds, der ein schützendes Dach über etwas breitete, das von den Briefmarkensammlern bis zu den Literaturfreunden reichte und in früheren Zeiten Vereinsleben geheißen hatte. Der Umbruch des Jahres 1990 bereitete ihm, nach Kränkungen vonseiten der Neuen Bachgesellschaft, die er 1962 als eine gesamtdeutsche hatte erhalten helfen, auch manche Genugtuung; er war wohl der einzige Deutsche, der sich sowohl den Vaterländischen Verdienstorden wie das Bundesverdienstkreuz an die Brust heften konnte. An seinem 100. Geburtstag bildete das überfüllte Foyer des Schiller-Theaters einen festlichen Rahmen; Hans-Jürgen Flimm nahm das Wort, und Daniel Barenboim gab mit Mitgliedern der Staatskapelle den ersten Satz von Schumanns Klavierquintett zum Besten. Am Ende erhob sich der Hundertjährige, ein kleine, gebeugte Gestalt, und zeigte sich in seinen Dankesworten im Vollbesitz der nüchtern-herzlichen Geistesgegenwart, die ihn durchs Leben begleitet hatte. Die Musik übt versöhnende Kräfte, Hans Pischner hat sich zeitlebens in ihren Dienst gestellt. Seine Intendanten-Ära steht für eine goldene Zeit der Oper in Berlin-Mitte.
Hans Pischner ist am 16. Oktober 2016 gestorben.
Dr. h.c. Friedrich Dieckmann (geb. 1937), Schriftsteller und Publizist, lebt in Berlin-Treptow. Zuletzt erschien: „Vom Schloß der Könige zum Forum der Republik / Zum Problem der architektonischen Wiederholung“ (Theater der Zeit, Berlin 2015) und „Luther im Spiegel / Von Lessing bis Thomas Mann“(Quintus, Berlin 2016).
Schlagwörter: DDR, Deutsche Staatsoper Berlin, Friedrich Dieckmann, Hans Pischner, Intendant, Kulturbund, Musiktheater, Otmar Suitner