von Jürgen Brauerhoch
Den Charakter des 20. Jahrhunderts fasste Erich Maria Remarque einmal so zusammen: „Nie hat es mehr falsche Propheten gegeben, nie mehr Lügen, nie mehr Tod, nie mehr Zerstörung und nie mehr Tränen als in unserem Jahrhundert …, dem des Fortschritts, der Technik, der Zivilisation, der Massenkultur und des Massenmordes“!
In diesem Jahr könnten wir, wenn uns der Sinn danach stünde, das hundertjährige Jubiläum vieler dieser Erscheinungen feiern, die uns noch heute beschäftigen. Das fällt besonders schwer beim Thema Massenmord; denn wie ist es möglich, dass nach den ungeheuren Verlusten 1916, im dritten Weltkriegsjahr – 1,3 Millionen Tote allein in den Somme-Schlachten, 700.000 vor Verdun –, wie konnte sich die unbelehrbare Menschheit keine 25 Jahre nach diesem Fiasko in ein noch viel größeres Blutbad stürzen?
Albert Einstein, herausragende Persönlichkeit des Jahrhunderts, hatte eine Erklärung für diesen Wahnsinn: „Zwei Dinge auf dieser Welt sind unendlich: das Weltall und die menschliche Dummheit. Beim Weltall allerdings bin ich mir nicht ganz sicher!“
Und wirklich gehört eine geradezu astronomische Dummheit dazu, sich in kurzen Intervallen von Lügnern gegen jede Vernunft ins Verderben führen zu lassen. Es fing wie manches Üble mit unserem alten Kaiser Wilhelm II. an und seinem heimtückischen „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ Womit er die Sozialdemokraten in sein Kriegskreditboot holen wollte. Und diese Deutschen, nunmehr scheinbar parteilos, setzten sich begeistert ihre Pickelhauben auf, stürzten sich mit Dreifach-Hurra in den mörderischen Krieg und ließen sich für Kaiser, Volk und Vaterland totschießen.
An Krücken hinkend aus dem Inferno zurückgekommen, ließen sie sich eine Republik versprechen, in der es gerecht und „demokratisch“ zugehen sollte. Aber als erstes schoss ein SPD-Reichswehr-Minister Arbeiter und Andersdenkende nieder und allmählich versumpfte diese Republik, die sich die „Weimarer“ nannte, in einem Verordnungs- und Ermächtigungs-Chaos ohne generelle Verantwortlichkeiten. Draußen vor der Tür aber stand einer, der die Masse hinter sich hatte, als er die „Schmach von Versailles“ tilgen und mit dem „Parteiengezänk“ Schluss machen wollte: Adolf Hitler, geboren im Umfeld von Linz (Slogan: „In Linz beginnt’s“), Kunstflüchtling aus Wien, ein Österreicher, der die inflationsgebeutelten Deutschen mit scharfen Reden wieder aufrichten wollte. Er schaffte nicht nur die Arbeitslosen ab und die Autobahnen an, er brachte es auch fertig, dass sich dieses darniederliegende Deutschland zu einem neuen, noch umfassenderen Weltkrieg verführen ließ.
„Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen“ – wie naiv und ehrlich klang das nach sechs Jahren intensiver Kriegsvorbereitung! Polen und Franzosen kapitulierten in Blitzkriegen, nur die Bomber flogen so lange „gen Engelland“, bis kaum mehr einer übrig war und das eigene Volk hilflos und zitternd in Luftschutzkellern saß und jetzt den grenzenlosen Hass der Überfallenen zu spüren bekam. Bald waren die deutschen Städte nur noch Trümmerwüsten, und wieder wurde den Übriggebliebenen in ihrer Stunde null ein Märchen aufgetischt – im geteilten Rest Deutschlands, getrennt nach Ost und West.
Denen unter sowjetischer Herrschaft wurde ein sozialistischer Arbeiter-und-Bauernstaat ohne Klassenunterschiede oder Privilegien versprochen, denen unter kapitalistischer Herrschaft das Paradies auf Erden, wenn erst einmal die neue „De-Mark“ (bald ein Mythos!) zu funktionieren begonnen hätte. Beides Lug und Trug, aber eben auch trügerische Hoffnungen, von denen eine blieb: die Hoffnung, dass nach den wahnsinnigen Verlusten des Zweiten Weltkrieges nunmehr auch die zeitgeschichtlich minder Bemittelten den Krieg endlich grundsätzlich ablehnen würden, dass es nach diesem Aderlass keinen weiteren mehr geben würde!
Oh Phobos, Deimos und Enyalios! – um nur einige der vielen Kriegsgötter zu nennen, die sich die Menschheit im Laufe der Zeit im Überfluss geleistet hat! Wie könnten die sich über die Naivität der Völker amüsieren, wenn sie die inflationär zunehmenden kriegerischen Auseinandersetzungen bis in unsere Tage aufzählten.
So wie den heutigen Flüchtlingsstrom von Süd nach Nord gab es bereits vor hundert Jahren einen anderen von Ost nach West, allerdings nach strengen Regeln. Die „Migranten“ durften weder verheiratet noch schwanger sein, bekamen keine Zuwendungen oder womöglich Aufenthaltsgenehmigungen, sie sollten nur Kartoffeln oder sonst etwas lesen und baldigst wieder verschwinden! Und vor genau 100 Jahren begann auch das heutige Chaos in der arabischen Welt Wurzeln zu schlagen, das leichtsinnigerweise bis vor kurzem noch als „arabischer Frühling“ gefeiert wurde und das sich inzwischen zur politischen Katastrophe entwickelt hat. Der Aufstand der arabischen Völker gegen die türkische Herrschaft begann genau 1916. Faisal, der Sohn des Großscherifen von Mekka, erklärte die Unabhängigkeit und mit tatkräftiger Unterstützung der Engländer und des später berühmt gewordenen Briten Lawrence von Arabien wurden die ersten Guerillaaktionen gegen das Osmanische Reich inszeniert, das am Ende des Ersten Weltkrieges zu existieren aufgehört hatte und heute nur noch als stark verkleinerte Türkei großen Ärger macht.
Vor 100 Jahren passierte noch etliches mehr, das bis heute nachwirkt. Im Sommer 1916 kam es in Berlin zu ersten größeren Streiks gegen den Krieg, auch auf französischer Seite gab es einige Vernünftige, aber die Forderung nach Verbrüderung, die Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg erhoben hatten, beantwortete die kaiserliche Justiz mit Zuchthausstrafen. Dem Vorsitzenden der SPD Hugo Haase, der sich gegen weitere Kriegskredite aussprach, verweigerte die Fraktion die Gefolgschaft und ersetzte ihn durch den opportunistischen Friedrich Ebert, der bald keine gute Rolle in der deutschen Nachkriegspolitik spielen sollte. Das alles, während in Frankreich Schlachten geschlagen wurden, die durch enorm hohe Verluste und eine immer brutalere Kriegsführung gekennzeichnet waren.
In dieser Situation, da sich zwei Völker gegenseitig auszulöschen suchten, versammelten sich in der neutralen Schweiz junge Männer, dem Militärdienst entkommen, und gründeten am 5. Februar 1916 in der Spiegelgasse in Zürich einen Club für ausgefallene Ideen, Geburtstag des Dadaismus! Väter waren Hugo Ball und Tristan Tzara. Die beiden sympathisierten miteinander durch ihren ungewöhnlichen Sinn für Anti-Geist, Ball ruhig und nachdenklich, Tzara unglaublich lebhaft, wie geschaffen für das Cabaret Voltaire, das bald auch in Paris praktiziert wurde in der Absicht, mit Dichtern aus anderen Ländern Kontakt aufzunehmen. Man grenzte Dada vom Futurismus ab, der ein Programm habe, während es das Programm des Dadaismus sei, eben keines zu haben!
Aber die Welt nahm kaum Notiz von den jungen Spinnern und ihren abwegigen Ideen, die Welt hatte nur eines im Sinn: den Krieg! und einige wenige auch: den Frieden. Aber so wie Haase und Liebknecht und Luxemburg in Deutschland „kaltgestellt“ wurden, so wird wegen seiner Aufrufe zur Kriegsdienstverweigerung auch der britische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell von der Universität Cambridge gefeuert, während andererseits Gustav Krupp von Bohlen und Halbach für seine Verdienste um Panzer, Geschütze und Bomben von Kaiser Wilhelm II. das Eiserne Kreuz erster Klasse erhält. Das Volk wird davon nicht satt. Im Gegenteil – es hungert. Ende 1916 werden im Deutschen Reich sämtliche Steckrüben aufgetrieben und von Staats wegen beschlagnahmt – der Anfang des legendären Kohlrübenwinters 16/17, der sich bis in den Zweiten Weltkrieg in die Hirne der Betroffenen eingebrannt hatte und erst von der noch schlimmeren Inflation Anfang der Zwanzigerjahre abgelöst wurde – ein Lug und Trug der Sonderklasse!
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