von Klaus Hammer
Ilse Aichinger, die so bezwingende große alte Dame aus Wien, ist 95-jährig gestorben. In Trauer und Erinnerung an diese beeindruckende Repräsentantin der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur habe ich aus dem Bücherregal eines ihrer letzten Werke, den Erzählband „Unglaubwürdige Reisen“ genommen und wieder darin geblättert. Ich las mich fest und kam nicht wieder los.
Während dreier Jahre – vom Attentat auf die New Yorker Zwillingstürme bis zum Literaturnobelpreis für Elfriede Jelinek – hatte sich Ilse Aichinger im Wiener Kaffeehaus des k. und k. Hofzuckerbäckers Demel auf Reisen begeben. Sie verbrachte den ganzen Vormittag dort bis zu ihrem Kinobesuch am späten Nachmittag. Sie las und gab sich Erinnerungen hin, sie zitierte und beschrieb, erzählte Geschichten, bis irgendwann, bei einem nebensächlichen Detail, der Funke vom Fremden, Abseitigen zum Eigenen, Unerwarteten sprang. Jeweils donnerstags verfasste Ilse Aichinger während dieser drei Jahre am Kaffeehaustisch für die Wiener Tageszeitung Der Standard ein Reisefeuilleton. Reisen hieß für die Autorin, im alltäglich Gewohnten zu bleiben – Reisen in die Geschichte, Begegnungen durch die Zeiten hindurch, „Schattenrisse“ der Erinnerung also.
Zu den öffentlichen Ereignissen 2001 und 2004, die den Rahmen ihres Erzählbandes bilden, gesellten sich zwei persönliche Zäsuren hinzu – Aichingers Oberschenkelhalsbruch und ihr anschließender Krankenhausaufenthalt sowie der Tod ihres Lebensgefährten, des Literaturwissenschaftlers und Kritikers Richard Reichensperger. Er war es gewesen, der sie nach jahrelangem Schweigen wieder zum Schreiben veranlasst hatte.
In alle Himmelsrichtungen, Länder und Orte können die „unglaubwürdigen Reisen“ führen. Vor die Haustür, in den nächsten Wiener Bezirk oder bis in den Kaukasus und nach Shanghai. England ist das eigentliche Sehnsuchtsziel. Hier lebt die Zwillingsschwester Helga, seit sie 1939 mit einem der letzten Kindertransporte aus Österreich ausreisen konnte. Ilse Aichinger war Halbjüdin. Während des Krieges war sie dienstverpflichtet. Ihre Verwandten mütterlicherseits waren rassischen Verfolgungen ausgesetzt oder starben in den Vernichtungslagern. 1949 erkämpfte sie sich eine Reise nach England, zu ihrer Zwillingsschwester, die eine Schriftstellerin in englischer Sprache geworden war.
Auch Aichinger hatte nach 1945 begonnen, intensiv an einem Roman, „Die größere Hoffnung“, zu arbeiten, der 1948 herauskam. Er handelt von einer Gruppe von Kindern, die, verfolgt wie ihre Eltern, versuchen, einen Ausweg aus den Zwängen des Hitler-Regimes zu finden, durch Emigration, Flucht oder das Bewahren der Hoffnung auf die Vorsehung oder die Hilfe anderer.
1951 erschien sie zum ersten Mal mit ihrer Kurzgeschichte „Der Gefesselte“ vor der Gruppe 47 und erhielt im folgenden Jahr den Preis der Gruppe 47 für ihre dann berühmt gewordene „Spiegelgeschichte“. Zahlreiche Auszeichnungen und Preise schlossen sich an. 1953 heiratete sie den Schriftsteller Günter Eich, der 1972 verstarb. Er wusste das zu theoretisieren, zu formulieren, was Aichinger intuitiv zur Sprache brachte, was sie poetisierte.
Obwohl sich in Aichingers Werk enge Zusammenhänge mit der Biographie der Autorin aufweisen lassen und tatsächliche Vorkommnisse oft Anstoß zum Schreiben waren, ist sie keine biographische Schriftstellerin. Bei ihr entfalten sich die schöpferischen Möglichkeiten des Spiels, die Grenzen der Wirklichkeiten zu überschreiten.
Die erste Geschichte in dem Band „Unglaubwürdige Reisen“ heißt „Eine Zigarre mit Churchill“. „Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen: Das fiel mir schon ziemlich früh auf. Die unglaubliche Sprachlosigkeit Gesellschafts- oder auch Einzelreisender: Sie reicht nicht zur Stille, um so mehr zur Stummheit. Das gibt dann Lichtbildervorträge.“ Bei jeder Englandreise stattet die Ich-Erzählerin dem Wachsfigurenkabinett der Madame Tussaud in London ihren Besuch ab. Die Wachsfigur Hitlers am Eingang der „Chamber of Horrors“ sieht genauso unbedeutend aus wie in Wirklichkeit, stellt sie fest. Dagegen würde man gerne das Winston-Churchill-Modell „auf eine Zigarre einladen, an Hitler vorbeispazieren und Zigarrenasche fallen lassen“.
„Die frühen Blicke in Anstaltsgärten“: Keiner kann seine Kindheit selbst wählen. Für die Ich-Erzählerin war sie Linz und der tägliche Spazierweg von der von unbezahlten Büchern des Vaters überbordenden Wohnung zur Landesirrenanstalt mit ihren freundlichen Insassen. „Bis der Himmel über Linz und der Donau den Linzer Schläfern recht gab und den Grat zwischen Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit kurz besänftigte.“
In Wien bleiben die Katastrophen im Verborgenen („Die blaue Milch der Grünangergasse“). Das Hauptquartier der Gestapo im ehemaligen teuren „Hotel Metropol“, aus dessen Keller die Schreie und Kreuzverhöre nicht nach außen drangen, befand sich ebenso in der Wiener Grünangergasse wie das „Gasthaus zum Grünen Anker“, dessen Besitzer noch eine Zeitlang die Juden in ihren Verstecken „nicht nur mit den besten seiner Weinvorräte“ versorgte.
Oder „Pippi Langstrumpf im ‚71er’-Wagen“: Astrid Lindgrens Tod habe die Erzählerin verunsichert. „Ihr Sterben verlief wie leichte Erdbeben, die schwereren vorausgehen oder sie verhindern: Ihre Freunde sagen, sie hätte, entkräftet, ihren Tod herbeigesehnt.“ Aber Pippi Langstrumpf, die Pillen gegen das Erwachsenwerden nahm, ist längst in Wien eingetroffen und überholt spielend die schnellste und am meisten frequentierte Straßenbahn 71 zum Zentralfriedhof.
Die „unglaubwürdigen Reisen“ führen die Medizinstudentin Ilse Aichinger in die Wiener Anatomie, nach dem mährischen Zauchtl, in dem 1868 die Großmutter geboren wurde, unweit von Freiberg, dem Geburtsort Sigmund Freuds, und auf den Spuren des Urgroßvaters in den Kaukasus. „Geblieben ist die Neugier, die Lust an anderen Existenzformen, die täglich jeden Augenblick wieder so unglaubwürdig wie möglich machen.“ Günter Grass wird ihr, als sie sich der komplizierten Oberschenkelhalsoperation unterziehen muss, mit seiner Gelassenheit, seinem „Maß an Lebensfähigkeit“ zum Vorbild. Was wäre gewesen, wenn sein Oskar Matzerath aus Danzig die verfolgte Gruppe von Kindern um Ellen (aus Aichingers Roman „Die größere Hoffnung“) in Wien getroffen hätte? „Hätte der Rhythmus seiner Trommel den Rhythmus der Transporte über die Schwedenbrücke wenigstens ein wenig aus dem Gleichmaß bringen können? Matzerath kam von der Ostsee. Er kann seine Angst nach außen werfen. Ellen nicht“.
Den „Unglaubwürdigen Reisen“ des ersten folgen die „Schattenspiele“ des zweiten Teils: „Menschen, die am Rande stehen, die nicht in Zeitungen oder auf Partys glänzen. Nur sie bleiben in Erinnerung, sie mit ihren Sterbensarten.“ Der Psychologe Alfred Adler, der immer im Schatten Freuds stand, dem die Flucht nach England gelang und der unvermittelt und einsam 1937 in Aberdeen starb – „ein konsequent zu Ende definiertes Schattenspiel“? Der Silvestertag, die Neujahrswünsche der Erwachsenen, das „Heute“, das die kleinen Kinder sagen, wenn sie verzweifelt auf etwas bestehen: „das ist der Tag, der morgen endgültig vorbei ist“. Der junge Mann, den die Nachricht, er sei „HIV-positiv“, nur noch ein Ziel verfolgen lässt – ein Grab in Berlin, neben Marlene Dietrich, zu erhalten. Als ihm das gelingt, wird die Diagnose dementiert, er ist gesund, und nun bleibt ihm „nichts anderes mehr, als mit einer unabsehbar verlängerten Existenz fertig zu werden“. „Schatten wechseln, streifen leicht vorbei, lindern, kühlen, aber ihre Möglichkeiten werden von dem bestimmt, der sie wirft“, so beginnt die Hommage auf den Lebensgefährten Richard Reichensperger, der das Leben als Geschenk nahm. „Uns bleibt die Hoffnung, dass das Geschenk seines Lebens an uns nicht verloren ist.“ Was hat das Ende des Zahnarztes der Zwillingsschwestern in einem der vielen Vernichtungslager mit der „Erlebnisgarantie“ zu tun, die der Reiseführer für Shanghai anbietet? „Haben schon gewählt?“, heißt es immer noch beim k. und .k. Hofzuckerbäcker. Aber welche Wahl im Leben ist schon offen.
Aichingers Texte führen oft bis an den Rand des Verstummens. Die reale Basis kann mitunter nur noch indirekt erschlossen und erraten werden, auch wenn in den Geschichten wieder mehr Detail aus der Außenwelt – der eigenen Familiengeschichte, von Zeitgenossen, Vorbildern und Schreckensbildern – eingebracht wird. Sie kreisen um Erinnerungen und Begegnungen, Verfolgung, Ausreise, Flucht, Leben – Leben hier und Leben da –, Reisen – realen und imaginären, glaubwürdigen und unglaubwürdigen –, Sterben und Tod.
„Der Tod ist der Tod, ein Zustand, kein Prozess wie das Sterben“, sagte die Schriftstellerin damals. Deshalb spricht sie auch von „Sterbensarten“, nicht – wie das Ingeborg Bachmann getan hat – von „Todesarten“. Nicht der Tod mache ihr Angst, sondern das Sterben. Schreiben heiße deshalb für sie: Sterben lernen.
Nun hat sie, die auch „Dichterin des Unerledigten“, genannt wurde, ihre „Lebensreise“ beendet, mit ihren Texten aber bleibt sie bei uns, Texte, aus denen wir das Leben wie auch das Sterben lernen können.
Schlagwörter: Ilse Aichinger, Klaus Hammer, Literatur, Wien