von Ingemarie Frost
Ein mit mir immer noch verbundener ehemaliger Schüler schickte mir das Buch „Abitur im Sozialismus – Schülernotizen 1963 – 1967“ von Werner Müller, 2016 erschienen.
Was für eine freudige Überraschung war der Inhalt. Da bemühte ein Zeitzeuge sein Gedächtnis, seine Tagebücher, die zu seinem Erstaunen im Stadtarchiv aufgehobenen Klassenbücher der oben genannten Jahre und die Erinnerungen ehemaliger Klassenkameraden, um gegen das gängige Urteil über „die doktrinäre Einheitsschule“ in den Massenmedien sein Schülerdasein an der Erweiterten Oberschule „Rainer Fetscher“ in Pirna darzustellen. Er wolle nicht „die alleinige Wahrheit“ aufschreiben, sondern Geschichte mit Geschichten verbinden, zum Nachdenken anregen über Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit der gegenwärtigen deutschen Geschichtsauffassung.
Das ist ihm gelungen. In 22 Kapiteln bemüht er seine subjektiven Erinnerungen und berichtet so objektiv wie möglich über den Schulalltag in einer EOS, das Abitur mit Berufsausbildung, das Leben im Internat, die außerunterrichtliche und außerschulische Arbeit, die Rolle der FDJ, die Studienbewerbung und vieles mehr. Nicht in einem imaginären Raum, sondern in der DDR der 1960iger Jahre, der Zeit des Kalten Krieges.
Es ist ein gelungenes „Erinnerungsbuch“ geworden, das ich allen an diesem Teil der DDR-Geschichte Interessierten nur empfehlen kann.
Ich selbst bin ein Kind der DDR und des „Einheitlichen sozialistischen Bildungssystems“, habe fast unabhängig vom Geldbeutel meiner Eltern, 1954 das Abitur an einer Oberschule erworben, bis 1958 an einer Universität der DDR studiert und danach bis 1991 an einer EOS mit Leib und Seele als Lehrer gearbeitet. Ich habe viele Klassen als Fachlehrer und Klassenlehrer bis zum Abitur begleitet und Lehrerstudenten bei Hospitationen und im großen Schulpraktikum betreut.
Meine Erinnerungen stimmen mit denen des Autors im Wesentlichen überein, und ich ergänze: Trotz des einheitlichen Schulsystems für jede Altersstufe und der vorgegebenen staatlichen Lehrpläne für jedes Fach war die Ausprägung der Schulen der DDR so vielfältig wie es Schulen gab, abhängig von deren Einzugsgebiet und den Schülern, vom jeweiligen Direktor und besonders von den Lehrern, die auch nach der Hattie-Studie aus dem Jahr 2008 das Entscheidende in der erfolgreichen Arbeit mit Schülern sind.
Die Lehrer in der DDR wurden sehr gut und praxisbezogen ausgebildet. Das begann mit regelmäßigen Hospitationen im ersten Studienjahr, führte dann zu ersten Lehrversuchen unter Betreuung eines Mentors, gipfelte im großen Schulpraktikum mit eigenen Unterrichtsversuchen und endete mit den Examenslehrproben in den jeweiligen Fächern. Ich wusste allerdings nach der „Wende“ nicht was „Schwellenunterricht“ ist. Der Kollege bei meiner Hospitation in den alten Bundesländern antwortete auf meine Frage, was das denn sei: „Na, ich überlege mir, wenn ich über die Türschwelle der Klasse gehe, was ich heute so mache.“ So war die Unterrichtsstunde dann auch.
Ich hatte meinen Lehrplan, den ich aber individuell und in Abhängigkeit von den Schülern gestaltete. Westdeutsche Kollegen sagten mir bei Gesprächen immer wieder: „Erhaltet euch nur euer Schulsystem.“
Zurück zum Buch. Ich habe zum Beispiel keine wöchentliche Politinformation als Schüler oder Lehrer kennengelernt, desgleichen keine wöchentliche Klassenleiterstunde. Die Wehrerziehung wurde erst nach 1978 ein obligatorisches Unterrichtsfach für die Jungen der Klassen neun und zehn. Vorher war das Sache der GST, einer gesellschaftlichen Organisation, in der nicht alle Schüler Mitglied sein mussten. Ich kannte die FDJ in den 1950iger Jahren als lebendige Organisation, in der wir mit Freude unser Freizeitleben organisierten, habe dann später als Lehrer aber ihr Erstarren als Massenorganisation so wie bei Werner Müller beschrieben erlebt.
Das Abitur mit Berufsausbildung gab es an der EOS nur für einen kurzen Zeitraum. Später wurde das Fach WPA (Wissenschaftlich Praktische Arbeit) eingeführt und zum Abitur mit einer Belegarbeit und deren Verteidigung bewertet.
An meiner Schule, der EOS „August Hermann Francke“ in Halle an der Saale, gab es Spezialklassen in Englisch, Französisch, Russisch, Griechisch und Latein, in denen die Schüler sogar in Gruppen unterrichtet wurden. Ansonsten waren der Klassenverband und die Beständigkeit in Inhalt und Organisation der Schuljahre eine unverzichtbare Form unserer Bildungs- und Erziehungsarbeit. Das kommt bei Werner Müller auch gut zum Ausdruck.
Nachempfinden kann ich Müllers Gedanken zur Umbenennung seiner ehemaligen Schule. In meinem Wohnort Halle ging es im gleichen Sinne um den Straßennamen „Emil Abderhalden“, Präsident der „Leopoldina“ von 1932 bis 1950. Erst eine Expertenkommission bewies seine Loyalität zu Andersdenkenden und Juden in der Akademie und die Straße behielt ihren Namen.
Noch einmal meine Empfehlung. Wer am Schulleben der DDR, auch immer im Vergleich zur damaligen BRD, interessiert ist, lese das Buch, und wer die DDR-Schule selbst erlebte wird sich wohlwollend und auch kritisch erinnern.
Werner Müller: „Abitur im Sozialismus – Schülernotizen 1963 – 1967“, EDITION digital (Pekrun & Sohn GbR), Pinnow 2016, 296 Seite, 12,80 Euro.
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