von Ulrich Kaufmann
Im zurückliegenden Jahrzehnt schrieb Volker Braun vor allem Prosa, gelegentlich auch Theatertexte. Sein jüngster, „Die Griechen“, kommt nun, am Ende der Peymann-Ära, gar auf die Bretter des Berliner Ensembles, zumindest auf die Probebühne. Gedichte aber seien „der Kern der Arbeit, das beiläufige Eigentliche“, notierte der Poet für die Buch-Klappe.
Die Freunde seiner Lyrik mussten sich in Geduld üben, da der vorletzte Gedichtband „Auf die schönen Possen“ vor elf Jahren erschien. Nun gut, auch Goethe, Hölderlin und Heine haben keine Lyrikbände im heutigen Verständnis komponiert, sondern eher Zyklen vorgelegt. Braun strukturiert den Band ähnlich, indem er einen Zyklus mit China-Gedichten sowie die Gedichtgruppe „Wilderness“, die bereits separat erschien, in die Sammlung aufnahm. Brauns Band ist wiederum fünfteilig und enthält (wie der Vorgänger von 2005) am Schluss einen „Anhang: Zeitgeist 2“.
Wie der Bandtitel berichtet der letzte Text gleichermaßen von einer Buchsammlung, vom Schicksal der „Schlenstedtschen Bibliothek“. „Was ein Halbjahrhundert aufliest / Zerschreddert das nächste…“ Dieter Schlenstedt, dem Braun hier auch den Nekrolog „Todesstunde“ widmet, war ein enger Freund, ein hochgeachteter Literaturwissenschaftler, der dem Autor mit Energie und Witz half, 1985, nach vier Jahren, den deftig-satirischen „Hinze-Kunze-Roman“ in der DDR durchzuboxen.
Aus Brauns Tagebüchern wissen wir, dass der Dichter ein vielgereister Mann ist, der seinen Fuß fast auf jeden Kontinent setzte. Diese Reisen liefern Material, geben vielfältige Anregungen. In den Gedichten ist etwa die Rede von China, dem Nahen Osten, Südamerika, Spanien und Frankreich. Selbstredend liefert Braun keine „Reisegedichte“, sondern er erkundet soziale Probleme, setzt sich mit der Geschichte, der Literatur, Kunst und Philosophie der fremden Länder auseinander. „Der Wahre Weg, ihr geht ihn, Söhne Maos. / Die große Ordnung und das große Chaos.“, heißt es in dem Text „Beim Wiederbetreten der Zickzackbrücke“. Auffällig an diesem Zitat und an anderen Stellen ist, dass Braun mehr und mehr den Reim nutzt, hier gar den volkstümlichen Paarreim. Nicht wenige Gedichte sind eingängig, erinnern in ihrer Einfachheit und Tiefe an den lapidaren Stil des Lehrers Brecht. Mit ihm korrespondiert er kontrapunktisch, auf höchstem Niveau in dem Langgedicht „Inbesitznahme der grossen Rolltreppe durch die Medelliner Slumbewohner am 27.Dezember 2011“. Während Braun tief betroffen schildert, wie Slumbewohner in Kolumbien aus dem Gesichtsfeld der Reichen gebaggert werden, konnte Brecht im Exil die „Inbesitznahme der großen Metro durch die Moskauer Arbeiterschaft“ noch feiern.
Volker Braun nutzt die Palette lyrischer Möglichkeiten. Sie reicht vom Zweizeiler bis zum Sonett („Der vertriebene Dante“), von der Elegie zum Prosagedicht („Erwachen. Nach Lu Xun“). Zu seinem Geburtstag (am 7. Mai 2011) notiert der Dichter: „Ein schöner Tag. Mein zweiundsiebtes Jahr. / Kein Lüftchen weht. Wie war es, als ich glücklich war.“
Ein Dutzend seiner Gedichte aus dem Zyklus „La traboule“ besteht aus streng gebauten, einstrophigen Zehnzeilern, darunter erneut ein Hiddensee-Text, der an derber Direktheit kaum zu übertreffen ist („Der Nacktstrand“).
Zwei der lyrischen Texte gehören in das Umfeld von Brauns provokantem Prosaband „Die hellen Haufen“, mit dem der Erzähler 2011 den tapferen Kalikumpeln aus Bischofferode ein Denkmal gesetzt hatte („Die Mettenschicht“, „Das Mannsfeld“ [sic ! – U.K.]).
Man lasse sich indessen nicht täuschen: Wie stets bei diesem Poeten sind etliche Gedichte hermetisch, erschließen sich schwer, auch wenn uns der Dichter hier und da durch „Anmerkungen“ zu helfen versucht. Braun benötigt einen forschenden Leser, der bereit ist, als Co-Produzent zu agieren. Der Dichter setzt nicht selten Kontexte voraus, die der Leser zunächst nicht hat oder wohl mitunter nicht haben kann.
Der Band enthält wenige private Gedichte („Stammbaum“ etwa), hier und da thematisiert Braun seine ostdeutsche Sozialisation, erinnert er doch knapp an Brecht, Eisler, Busch, Cremer, die Philosophen Bloch, Heise und Teller, an Bahro und Biermann („als er jung gewesen“), Fühmann und den Regisseur Dresen (Senior) („Inferno IV. Limbus“).
Zu Beginn des Bandes trägt ein Gedicht den medizinisch anmutenden Titel „Befunde“. In der Tat spricht Braun hier von Krankheit, auch von eigenen Gebrechen. Vor allem jedoch interessiert sich der Lyriker für gesellschaftliche Befunde, blickt er besorgt auf den Zustand der Welt. Er registriert nun (vor allem in „Wilderness“) einen Mangel an Hoffnung und Utopien. „Am Kilometer Null der Empörung. Du hockst / In der Handbibliothek der Unbehausten“. Die Szene ist in Spanien angesiedelt. Dem Autor bleibt der Kontrast, die Erinnerung an den großen Ernst Busch, an sein Lied „Madrid du Wunderbare“.
Volker Braun: Handbibliothek der Unbehausten – Neue Gedichte, Suhrkamp, Berlin 2016, 103 Seiten, 20,00 Euro.
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