19. Jahrgang | Nummer 20 | 26. September 2016

Vertrauen schaffen zwischen Russland und dem Westen

von Winfried Böttcher

Gerade in Zeiten eines verstörenden Verhältnisses zwischen der Europäischen Union, den USA und Russland müssen wir uns auf allen Ebenen der Politik, der Kultur, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Medien um Deeskalation bemühen. Alle Seiten können einen Beitrag zur Deeskalation leisten, wenn sie in gegenseitigem Respekt und Verständnis miteinander umgehen.
Um Missverständnissen von Anfang an vorzubeugen, möchte ich unterscheiden zwischen „Verständnis von“ und „Verständnis für“. Mich befremdet die öffentliche Diskussion um die „Putinversteher“ und/oder „Russlandversteher“. Aus meiner Sicht eine unzulässige Etikettierung und Polemik. Es erscheint mir bedenklich, dass „verstehen“, „Verständnis“ negativ besetzt sind, da diese Wörter die Grundlage menschlicher Kommunikation sind.
Verständnis von Russland bedeutet, seine Beweggründe für dieses oder jenes Handeln, seine Sichtweise, auch bei der Besetzung der Krim zu begreifen. Das heißt aber nicht, dass ich Verständnis für die Annexion der Krim oder für die militärische Intervention in der Ost-Ukraine aufbringe.
Beim Nachdenken über die verfahrene politische Lage macht es keinen Sinn, gegenseitige Schuldzuweisungen der Beteiligten vorzunehmen. Fest steht, dass auf beiden Seiten, sowohl der des Westens als auch der Russlands erhebliche Fehler gemacht wurden, sonst stünden wir nicht da, wo wir heute stehen. Politisch klug hat sich keine der Konfliktparteien verhalten. Die Europäische Union nicht, weil sie sich ahistorisch verhalten hat, indem sie unsensibel war gegenüber den wohlverstandenen Interessen Russlands an seiner Stammheimat. Die Ukraine ist für Russland kein Land wie jedes andere. Russland nicht, weil es nach dem Zerfall der Sowjetunion seine Traumata nicht überwunden hat, nicht mehr Weltmacht und von NATO und EU eingekreist zu sein. Bedenken muss man hierbei, dass Russland nach 1990 der große Verlierer war. Richtig ist auch, dass nach 1990 die NATO sich kontinuierlich bis an die russischen Grenzen ausgedehnt hat, was von Russland als Bedrohung empfunden wird.
Seit Peter dem Großen (1672–1725) ist das Schicksal Russlands eng mit Europa, das Schicksal Europa eng mit dem Schicksal Russlands verbunden. Gegenseitig sind wir auf gute Nachbarschaft angewiesen, da weder Russland die Europäische Union noch umgekehrt die Europäische Union Russland dominieren kann.
Wenn dem so ist, dann reicht es nicht aus, sich mit einem Modus Vivendi zufrieden zu geben, nein, vielmehr ist konstruktive Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil zu suchen. Noch besser wäre es, einen Gedanken von Marc Aurel (120–180), dem Philosophenkaiser aufzugreifen, leicht abgewandelt, dass sich Russland und die anderen europäischen Länder zu einander verhalten wie die Häuser einer Stadt. Will man die jetzt in den Straßen errichteten Mauern, die eine Straßenseite von der anderen trennen, einreißen, dann bedarf es von Seiten der EU eines Dialogs mit Russland mit Respekt auf Augenhöhe. Von Seiten Russlands bedarf es der Anerkennung der mühsam erworbenen Gemeinschaftsmethode der EU, nämlich Konflikte durch Dialog und Konsens zu regeln oder gar zu lösen.
Von daher ist es nicht nur kontraproduktiv und gefährlich sondern auch psycho-unlogisch – wie von der deutschen Bundeskanzlerin gerade im Bundestag geäußert – Dialog und Abschreckung gehörten zusammen. Das ist altes Denken. Es wirft uns zurück in Zeiten des Kalten Krieges, als Abschreckung und Hochrüstung die Welt an den Rand eines Krieges brachten. So hat auch der Bundesaußenminister recht, wenn er vorm „Säbelrasseln der NATO“ warnt.
Einen Denkansatz, der einer Lösung der Krise eine Chance bietet, können wir nur dann in politische Realität umsetzen, wenn wir aufhören mit: Selbstgerechtigkeit, Kritikunfähigkeit gegenüber eigenem Verhalten, Verteufelung des Gegners, mit „der Polarität der Werte“ zwischen „wir“, den Guten und Fairen und „ihnen“, den Bösen und Unfairen. Dasselbe Verhalten gilt als moralisch, wenn „wir“ danach handeln, als unmoralisch, wenn „sie“ danach verfahren. Das sind Elemente, aus denen Freund/Feind-Denken erwächst.
Wir müssen also unsere eigenen Handlungsmotive und diejenigen des vermeintlichen Gegners als gleichwertig beurteilen. Die größte Blockade, dies anzuerkennen, liegt in dem gegenseitigen Sich-misstrauisch-Belauern. Ohne die Wiederherstellung eines gegenseitigen Vertrauens werden die Spannungen dramatisch zunehmen. Mehr und mehr folgen sie schon jetzt dem bekannten Muster des Kalten Krieges. Die Rhetorik ist dafür nur ein Symptom. Da bringt es auch nichts, wenn der Generalsekretär der NATO den Kalten Krieg in die Geschichte verweist.
Da Russland sich nicht zu Unrecht als Hauptverlierer der geopolitischen Veränderungen nach 1990 fühlt, von daher auch der Vertrauensverlust gegenüber dem Westen groß ist, sollte der Westen mit vertrauensaufbauenden Maßnahmen beginnen. Es macht keinen Sinn, wenn die deutsche Bundeskanzlerin den ersten Schritt von Russland erwartet. Mit einer solchen Forderung finden wir aus der Spannungsfalle nicht heraus.
Erst wenn die gegenseitige Propaganda eingestellt ist, alle Sanktionen aufgehoben sind, kann ein Klima des Vertrauens geschaffen werden, in dem Verhandlungen Erfolg versprechen. Im Gegenzug muss Russland mit einem Rückzug aus der Ost-Ukraine antworten. Ohne die Schaffung einer wechselseitigen Vertrauensbasis kann weder der Ukrainekonflikt werden, noch Russland in die Lösung anderer internationaler Konflikte, die ohne Russland nicht lösbar sind, zum Beispiel, globaler Terror, gleichberechtigt einbezogen werden.
Das Ziel im Verhältnis von Russland und dem Westen muss eine andauernde, nachhaltige, strategische Partnerschaft sein. Dann kann auch über eine Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok verhandelt, eine Modernisierung Russlands mit Hilfe des Westens zu beidseitigem Nutzen eingeleitet und eine völlig neue Sicherheitsarchitektur für Europa entworfen werden.
Gelingen wird dies nur, wenn wir Idee und Praxis, Vernunft und Vision zu einem Dialog der Übereinstimmung statt wie bisher der Gegensätze entwickeln. Die dafür notwendige Maxime politischen Handelns muss einem Grundgedanken Richelieus (1585–1642) folgen, der Politik als die Kunst verstand, das Notwendige möglich zu machen. Das vordringlich Notwendige heute ist, zwischen Ost und West ein Klima des Vertrauens zu schaffen.