19. Jahrgang | Nummer 20 | 26. September 2016

Mit Jean Paul auf Reisen

von Mathias Iven

Wer von uns hat noch nie die Worte „Angsthase“ oder „Schmutzfink“ in den Mund genommen? Wer ist noch nie vom „Weltschmerz“ ergriffen worden? – Das wir davon und darüber reden, scheint uns selbstverständlich. Doch bedurfte es dazu erst einmal der Wortschöpfung. Und die haben wir dem einstigen Lieblingsdichter der Deutschen, Johann Paul Friedrich Richter, besser bekannt als Jean Paul, zu verdanken.
Im Nachgang zu den Feierlichkeiten anlässlich seines 250. Geburtstages haben Bernhard Echte und Michael Mayer jetzt ein Buch herausgegeben, das Maßstäbe für die Gattung der Literaturreiseführer setzt. Der, was Aufbau und Ausstattung betrifft, mustergültig zu nennende „Jean Paul Taschenatlas“ ist das Ergebnis einer Litfaßsäulenausstellung, die vor drei Jahren in 25 Orten Deutschlands und Tschechiens stattfand. Die erweiterte Buchausgabe umfasst Beiträge von 24 Autoren zu 30 Orten von „B“ wie Bamberg bis „W“ wie Wunsiedel.
Neben einer Darstellung des mit dem jeweiligen Ort zusammenhängenden biographisch-literarischen sowie historischen Kontextes ist jedem Artikel eine zusammenfassende Chronologie beigegeben. Für die Orientierung vor Ort gibt es kleine Übersichtskarten, ergänzt wird das Ganze durch die Angabe von Öffnungszeiten und Kontaktdaten sowie ortsbezogene Literaturempfehlungen. Für eine Neuauflage würde man sich darüber hinaus allerdings noch eine Übersichtskarte mit allen im Band besprochenen Orten sowie ein Namensregister wünschen.
„Mit der Seßhaftigkeit tat sich Jean Paul offensichtlich schwer.“ So das Resümee der Herausgeber. Schließlich reiste der Autor nicht nur gerne, sein nur wenig mehr als sechs Jahrzehnte währendes Leben wurde auch durch zahlreiche Umzüge bestimmt. Greifen wir nur drei seiner Lebensstationen heraus.

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Berlin – Ende Mai 1800 kam Jean Paul zum ersten Mal in die preußische Hauptstadt. Drei Wochen darauf teilte er seinem Schriftstellerkollegen Gleim mit: „In keiner deutschen Stadt ist die Achtung für das Gesez worin allein Freiheit besteht, sogar beim König grösser als hier. Noch in keiner wurd’ ich mit so vielem und algemeinen Enthusiasmus aufgenommen als hier.“ Vier Monate später wählte er Berlin zu seinem Wohnsitz, ließ ihn die seit längerem bestehende persönliche Beziehung zu Königin Luise doch auf Unterstützung seiner Arbeit hoffen. Gemeinsam mit seinem Freund Hans Georg von Ahlefeldt bezog er das Gartenhaus im Hinterhof der Neuen Friedrichstraße 22. Seine Nachbarn im Vorderhaus waren Marcus und Henriette Herz.
Schnell fand Jean Paul Eingang in die sich in diesen Jahren entwickelnde Berliner Salonkultur, die nicht unwesentlich durch Henriette Herz und Rahel Levin bestimmt wurde. „Es war“, so erinnerte sich Henriette Herz später, „die Mischung aller Stände […], welche ihm besonders behagte“. Er verkehrte unter anderem mit Ludwig Tieck, Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher, doch auch die bloße Geselligkeit zog ihn an, wie sein Hofer Freund Christian Otto erfuhr: „Ich besuchte keinen Gelehrtenklub, so oft ich auch dazu geladen worden, aber Weiber die Menge. Ich wurde angebetet von den Mädgen, die ich früher angebetet hätte.“
Am 9. Juni 1800 lernte Jean Paul Caroline Mayer kennen, die – obgleich mit einem anderen verlobt – bereits elf Monate später seine Frau werden sollte. Die Hochzeit fand am 27. Mai 1801 statt, unmittelbar danach verließ das Paar Berlin und zog nach Meiningen. Die ihn ablenkende städtische Betriebsamkeit und die das gesellschaftliche Leben bestimmende Oberflächlichkeit dürften Jean Paul zu diesem Entschluss veranlasst haben. Herders Frau Karoline hatte er bereits im Januar 1801 mitgeteilt: „Philosophie, Dichtkunst und Malerei finden hier nur Sand für Ihre Wurzeln; blos die Musik findet rechte Hände und Ohren.“

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Gotha – Friedrich von Oertel, Jean Pauls Freund und Kollege, erhielt Anfang April 1799 einen Brief, in dem es hieß: „In Gotha fand ich so bunte weiche Bänder des Beisammenseins […] und was mehr ist, soviel holde Gestalten, daß ich nur die Blüten erwarte, um auf 4 Wochen dahin zu ziehen.“
Insgesamt acht Mal hielt sich Jean Paul in den Jahren 1799 bis 1803 in Gotha auf. Die Stadt entsprach genau seinen Vorstellungen: sie war weder zu groß, noch zu provinziell, hatte kulturell etwas zu bieten und die herzogliche Bibliothek bot ihm genügend Lesestoff. Doch vor allem war es die sich nach dem ersten Zusammentreffen entwickelnde freundschaftliche Beziehung zu dem am Gothaer Ernestinum lehrenden Archäologen Friedrich Schlichtegroll, die Jean Paul immer wieder in die Residenzstadt zog.
Im Sommer 1800 traf er den späteren Herzog Emil August Leopold von Gotha, der, wie sich herausstellte, ein großer Bewunderer von Jean Pauls Werk war. Nach dessen Übernahme der Regentschaft, am 20. April 1804, spielte Jean Paul kurzzeitig mit dem Gedanken einer Übersiedlung nach Gotha. Doch am Ende entschied er sich für Bayreuth – nicht zuletzt auf Grund seiner schlechten Erfahrungen mit einem Jenaer Zensor …

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Regensburg – Im August 1816 führte Jean Pauls Weg in eine der ältesten Städte Deutschlands. Auf Einladung von Karl Theodor von Dalberg weilte er knapp drei Wochen in der Donaustadt. Dalberg, der im Zuge von Napoleons Expansionsstreben kurzzeitig einer der politisch einflussreichsten Männer Deutschlands gewesen war, hatte Jean Paul in den Jahren 1809 bis 1813 mit jährlich 1000 Gulden aus seiner Privatschatulle unterstützt.
Dalbergs politisches Handeln betreffend war Jean Pauls Dankbarkeit frei von jeglichen Ressentiments. Weit wichtiger war dessen umfassende humanistische und literarische Bildung, hatte Dalberg doch mit Goethe, Schiller, Wieland und Herder korrespondiert und war mit eigenen philosophischen Schriften hervorgetreten. Für Jean Paul war er „ein Geistlicher im würdigsten Wortes Sinn“, „in allem mehr Gelehrter als Fürst“. Bereits 1811 schätzte er dessen historische Rolle wie folgt ein: „In der Geschichte wird es künftig nicht mehr heißen: ist kein Dalberg da? – sondern: er war da und blieb da, denn jedes deutsche Herz war sein Thron.“
Doch nicht allein wegen Dalberg kam Jean Paul nach Regensburg. Es war auch die Beschäftigung mit den eigenen familiären Wurzeln, die ihn an diesen Ort führte. Sein Vater hatte hier das Gymnasium besucht. Die von Jean Paul dazu betriebenen Nachforschungen fanden Eingang in seine Fragment gebliebene „Selberlebensbeschreibung“.
Fazit: Dieses Buch ist weit mehr als ein „Taschenatlas“. Vor uns haben wir eine Biographie der Bewegung, eine Biographie, die den Lebensspuren von Jean Paul bis in den kleinsten Winkel folgt. Ein herausragendes Nachlagewerk, das man sich in dieser Form auch für andere Autoren wünscht.

Bernhard Echte / Michael Mayer (Hrsg.): Jean Paul Taschenatlas, Nimbus – Kunst und Bücher, Wädenswil 2016, 488 Seiten, 24,80 Euro.