19. Jahrgang | Nummer 19 | 12. September 2016

Breedloves Vermächtnis

von Sarcasticus

Der US-General Philip M. Breedlove, mancher wird sich noch erinnern, war vom Jahre 2012 an Chef des U.S. European Command und zugleich Oberbefehlshaber Europa der NATO (SACEUR). Vor dem US-Kongress erklärte er in dieser Zeit, Russland, „falls nötig“, in Europa „zu bekämpfen und zu besiegen“. Doch bereits 2015 war schon wieder Schluss mit der Kommandoherrlichkeit – der Mann wurde von seinem Oberbefehlshaber (Barack Obama), aufs Altenteil geschickt.
Die Gerüchte sind bis heute nicht verstummt, dass Breedlove das unter anderem deswegen widerfuhr, weil er nach dem offenen Ausbruch des Ukraine-Konflikts im Jahre 2014 fast mit allen Mittel versuchte, massive US-Waffenlieferungen an Kiew durchzustechen. Ungeachtet des Risikos (oder sogar mit der vorsätzlichen Absicht?), damit einen Stellvertreterkrieg mit Russland zu provozieren. Die öffentliche Stimmung in Washington heizte er mit alarmistischen Meldungen über angebliche große russische Truppenbewegungen in Richtung Ukraine an sowie über den mutmaßlichen Einsatz regulärer russischer Verbände in der Ostukraine. Im Kanzleramt sprach man 2015 von einer „gefährlichen Propaganda“ des NATO-Oberbefehlshabers, und das Auswärtige Amt erklärte unverblümt, zum Glück hätten sich neben Deutschland auch andere „gewichtige Stimmen kontinuierlich gegen die Lieferung ‚letaler Waffen’ eingesetzt“.
Gehackte private Mails Breedloves, die die Enthüllungsplattform DC Leaks kürzlich ins Netz stellte, dokumentieren, dass der General seinerzeit im Rahmen und als Sprachrohr eines klandestinen Netzwerks einflussreicher westlicher Scharfmacher agierte, zu dem neben Philip Karber, Präsident des konservativen Thinktanks Potomac-Stiftung und schon in den 1980er Jahren einer der schärfsten Einpeitscher im Kalten Krieg, mit Wesley Clark auch einer von Breedloves Amtsvorgängern zählte; des Weiteren Ex-US-Außenminister Colin Powell sowie Victoria Nuland, die stellvertretende Außenministerin für Europa, der Chancen auf den Ministerposten im Falle eines Wahlsiegs von Hillary Clinton nachgesagt werden. In einer seiner Mails hatte Breedlove geklagt: „Ich glaube, dass PONTUS (President of the United States – Sarcasticus) in uns eine Bedrohung sieht, die man entschärfen muss, nach dem Motto: Verwickle mich nicht in einen Krieg.“
Nun hat Philip Breedlove in dem altehrwürdigen Magazin Foreign Affairs einen Beitrag mit dem Titel „NATO’s next act. How to Handle Russia and Other Threats“ publiziert, dem er den Satz voranstellt: „Jetzt, nach Beendigung meiner Amtszeit, habe ich die Möglichkeit, darüber zu reflektieren, wie das US European Command und die NATO sich entwickelt haben, seit ich meinen Posten antrat.“
Das klingt nach Vermächtnis, und entsprechend schwergewichtig ist denn auch Breedloves zentrale Botschaft: „Die Grundlage jeder Strategie in Europa muss die Anerkenntnis sein, dass Russland eine andauernde reale Bedrohung für die Vereinigten Staaten, ihre Verbündeten und die internationale Ordnung darstellt.“
Die Begründung allerdings lässt Raum für Zweifel an der zerebralen Verfasstheit des Ex-Generals: Durch die Einverleibung der Krim und die Unterstützung der Rebellen im Donbas sowie der Proteste gegen die pro-westliche Regierung in Kiew habe Russland „einmal mehr gezeigt, dass es bereit war, etablierte Normen des internationalen Verhaltens zu eliminieren, um seine Ziele zu erreichen“. Nach dem Agieren der USA und anderer williger NATO-Staaten auf dem Balkan, inklusive Sepatation des Kosovo von Serbien, im Irak, in Libyen und in Syrien kommt dies doch eher einer Empfehlung gleich, Moskau neben Washington schnellstens zu unserem Hauptverbündeten zu küren! Doch im Ernst: Zweierlei Maß ist für Breedlove offenbar schon deswegen kein Problem, weil ihm jegliches Empfinden dafür abgeht, dass er solches anlegt. Da ist er im Übrigen ganz bei den meisten maßgeblichen westlichen Verantwortungsträgern und namhaften Akteuren von deren politologischer und medialer Entourage.
Augenscheinlich hat Putin nicht zuletzt den Kardinalfehler begangen, die Rebellen im Donbas nur mit Beratern und anderem „beurlaubten“ russischen Militärpersonal sowie mit Waffen, Munition und zivilen Gütern zu unterstützen statt dort mit der eigenen Luftwaffe und ohne Rücksicht auf zivile Opfer ordentlich zu bomben wie weiland die peacekeepers (O-Ton Breedlove) der NATO in Serbien.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht wirklich überraschend, welche Medizin Breedlove gegen die russische Bedrohung empfiehlt. Seine Hauptstoßrichtung kleidet er in einen historischen Vergleich: „Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges hatten die USA mehr als 400.000 Mann in Europa; heute sind es weniger als 100.000 […].“ Dass ihn da die bisherigen Maßnahmen zu einer Trendwende – unter anderem durch Schaffung von NATO-Hauptquartieren „in sechs verwundbaren zentral- und osteuropäischen Mitgliedstaaten“ sowie durch Dislozierung von US-Kampftruppen in den baltischen Staaten und in Polen sowie durch Vorausstationierung der Bewaffnung und Ausrüstung für weitere US-Brigaden (nach 995 Millionen Dollar 2015 sowie 789 Millionen 2016 sind dafür im nächsten Jahr weitere 3,4 Milliarden im Pentagon Budget vorgesehen) – nicht zufrieden stellen, liegt auf der Hand: „Diese Aktivitäten sind ein guter Start, reichen aber nicht aus.“ Also fordert Breedlove unter anderem die Vorausstationierung der „Ausrüstung für zwei oder drei zusätzliche Kampfbrigaden in Osteuropa“ – zusammen mit Nachschub für „wenigstens zwei Monate intensiven Konflikt“. (Dass das letztere Begriffspaar „Krieg mit Russland“ meint, liegt auf der Hand.) Zugleich sollten die gemeinsamen „nuklearen Übungen, die die US-Streitkräfte mit ihren NATO-Verbündeten durchführen“, verstärkt werden.

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Exkurs: Unter den US-Verstärkungsmaßnahmen nennt Breedlove ausdrücklich die Präsenz des US-Marinerkorps, jener berüchtigten amphibischen Interventionstruppe, im Schwarzen Meer, „die es im Jahre 2010 startete“. Da war vom Ukraine-Konflikt, wi er sich ab 2014 entwickelte, allerdings noch keine Rede …

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Dem Sachverhalt, dass die Rüstungsausgaben der NATO kaum mehr als das Dreizehnfache Russlands betragen, gilt eine weitere Sorge Breedloves, denn er rechnet so: „[…] obwohl die NATO seit 1990 zwölf neue Mitglieder dazu gewonnen hat, sind ihre Militärausgaben, ausgenommen die der Vereinigten Staaten, gesunken: von etwa 332 Milliarden US-Dollar 1990 auf 303 Milliarden 2014 […].“ Den Paktstaaten insgesamt schreibt er ins Stammbuch, dass die meisten immer noch das „NATO-weite Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben“ verfehlten. Und für diejenigen, die es immer noch nicht begriffen haben: „Der Kreml respektiert allein Stärke […].“
Wozu allerdings angesichts des bereits bestehenden konventionellen Kräfteungleichgewichts – Mannschaftsstärke der NATO: 3,2 Millionen Mann, Russlands: 800.000; gegen allein 8.800 US-Panzer stehen nicht einmal 3.000 russische und gegen 13.000 US-Kampfflugzeuge knapp 3.600 russische – weitere NATO-Stärke dienen soll, das bleibt Breedloves Geheimnis. Schon jetzt könnte Moskau in einem ernsthaften Waffengang mit der NATO eine Niederlage allenfalls durch Einsatz von taktischen Kernwaffen abzuwenden versuchen. Davon haben die russischen Streitkräfte zwar überreichliche Bestände, aber die Folgen wären ebenso unkalkulierbar wie katastrophal. Diese Falle allerdings scheint der siegbereite Ex-General gar nicht zu sehen. Jedenfalls äußert er sich nicht dazu. Das Dilemma selbst ist jedoch militärisch auch gar nicht lösbar …

P.S.: Dass die Frage, ob Militärs grundsätzlich zu dumm zum Denken sind, natürlich nur eine rhetorische ist, hatte der Autor bereits Gelegenheit zu versichern. Dito, dass Ausnahmen die Regel bestätigen. Er tat dies im Blättchen 7/2016. Bleibt hier nur zu ergänzen: Wenn sich die Ausnahmen allerdings häufen, dann kommt irgendwann der Moment, die Regel selbst infrage zu stellen …