Stephan Wohanka
„Wir“ ist ein Personalpronomen. Ein unschuldiges, unpolitisches Wort. Es machte in der jüngsten deutschem Geschichte trotzdem Kariere: „Wir sind das Volk!“. Es war 1989, als große Teile der DDR-Bevölkerung sich zum Geschichtssubjekt wendeten, sich aktiv gegen „die da oben“ wandten, sich untereinander solidarisierten. Namentlich die umworbene „Arbeiterklasse” versagte die weitere politische Gefolgschaft. Einen Grund für die damalige Lage sah das MfS laut einem Stasibericht in folgendem: „Als besonders enttäuschend und teilweise mit großer Bitterkeit wird die Tatsache gewertet, dass sich die führenden Repräsentanten der DDR bisher nicht direkt und persönlich an die Werktätigen gewandt haben, um den Standpunkt der Partei zur gegenwärtigen innenpolitischen Situation darzulegen […].“
Bei „wir“ scheint immer ein „alle“ – wir alle – mitzuschwingen. Falsch: Die Sprachforschung belegt, dass es ein inklusives und exklusives Wir gibt. Damit wird unterschieden, ob die angesprochene Person (Adressat) eingeschlossen oder ausgeschlossen ist. Das inklusive Wir umfasst den Sprecher, den Angesprochenen und möglicherweise Dritte. Beim exklusiven Wir wird der Angesprochene ausgeschlossen, während dritte Personen inkludiert sind.
Nun werden die entweder wutentbrannt oder aber euphorisiert „wir“ rufenden Massen sich nicht von sprachlogischen Überlegungen haben leiten lassen, sondern von Emotionen, Gefühlen oder Gefühltem. Auch an Menschen gerichteten „Wir“-Appelle sind frei von sprachtheoretischen Überhöhungen. Trotzdem und gerade deshalb, denke ich, ruft jeder heraus gebrüllte „Wir“-Appell nolens volens sehr wohl eine ein- beziehungsweise ausschließende politische Wirkung hervor.
Auf die DDR gemünzt, hatte die politische Führung als „Sprecher“ natürlich das inklusive Wir im Sinn; davon zeugen Zuschreibungen oder Losungen wie „Arbeiter- und Bauernstaat“ oder „unerschütterliche Einheit von Partei und Volk“. Das galt auch für Propagandalosungen wie „alles für das Volk, alles mit dem Volk, alles durch das Volk“. (Brecht wusste schon, weshalb er das Wort „Volk“ vermied und lieber von „Bevölkerung“ sprach.) Und der „Adressat“ fühlte sich über die Jahre auch mehr oder weniger angesprochen, einbezogen, eins mit der Führung; bis zu jenem fatalen Herbst 1989: Das damals gerufene „Wir sind das Volk!“ enthielt ein exklusives Wir: „Das Volk“ meinte nur noch sich selbst und schloss die Führung aus!
Mit Pegida und AfD ist der Slogan „Wir sind das Volk“ zurück auf der politischen Bühne. Und wie Namen und Intensionen beider glauben machen wollen – zur „Verteidigung des christlichen Abendlandes“. Die wird jedoch – teilweise von völlig areligiösen Personen – in einer sehr spezifischen Art verstanden: Sie bedient einerseits das fortdauernde Fremdeln mancher Ostdeutscher mit der Demokratie „westlicher Prägung“, ja deren latente Ablehnung; andererseits macht sie ethnische beziehungsweise religiöse Herkünfte der hier lebenden Menschen anstelle des Politischen zum Kriterium des „Dazugehörens“. Negiert wird, dass zur res publica alle den gleichen Zugang haben müssen, egal welcher kulturellen Herkunft sie sind oder welchem religiösen Glauben sie anhängen. Aus rechtlich und politisch gleichen Staatsbürgern sollen möglichst wieder Landsleute werden, die sich zuallererst einer Kultur respektive einer Religion zugehörig fühlen und weniger einem politischen Gemeinwesen. Summa summarum – auch dieses Wir ist nur ein exklusives: Nur die, die es rufen, sind „das Volk“, nur sie gehören dazu; alle anderen, sowohl Deutsche anderer Meinung als auch Ausländer sind „draußen“.
Merkels „Wir schaffen das“ vom September 2015 ist inzwischen ebenso legendär wie umstritten. Bestimmt hat Merkel ihr „wir“ an „alle“ Bewohner dieses Landes gerichtet – und meinte, ein inklusives Wir „ausgesandt“ zu haben. Sie hatte damit auch äußerlich Erfolg in Gestalt der so genannten „Willkommenskultur“
Zeitgleich stieß ihr Appell jedoch auf wachsenden Widerspruch und zunehmenden Widerstand. Warum? Merkels Aufforderung war lediglich auf eine Aufgabe, auf die Lösung eines Problems gerichtet – die der Aufnahme und (späteren) Integration von massenhaft ins Land strömenden Flüchtlingen. Mancher fragte sich: Warum sollte ich da mittun? Und viele anderen forderten nicht völlig zu Unrecht: Dann mögen „wir“ doch erst mal „schaffen“, dass es mir als Hartz-IV-Bezieher, als alleinstehender Mutter, als Benachteiligtem in dieser Gesellschaft besser geht. Folglich war Merkels „wir“ von Anbeginn an und im Gegensatz zu Merkels Intension auch ein exklusives Wir: Es schließt jene aus, die sich gerade nicht angesprochen, ja in gewisser Weise abgestoßen fühlten. Davon zeugen unzählige mehr oder minder böse Kommentare wie „Volksverräterin“, „Merkel will das Volk austauschen“, „Jetzt ist plötzlich Geld für Schulen und Polizei da“. Verstärkt wurde diese Abneigung und Gegnerschaft, wenn Merkels Appell mit dem Zusatz unterfüttert wurde „wir als reiches Land“…
Dass ein intendiertes inklusives Wir auf einen nicht geringen Teil der Bevölkerung wie ein exklusives Wir wirkte, erinnert an die DDR. Auch das wurde artikuliert, wenn Merkel verstärkt in deren Nähe gerückt wurde: „Wir schaffen das“ gelte als „die späte Rache der DDR an Angela Merkel“, vermeldete das Feuilleton.
Zugute halten muss man Merkel allerdings: Die Option, nichts zu tun, gab es Anfang September 2015 nicht mehr. Die hatte die Politik in den Jahren zuvor bereits verspielt.
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