19. Jahrgang | Nummer 17 | 15. August 2016

Seenotrettung anno dunnemals

von Dieter Naumann

Schiffe, die auf Grund liefen, versanken oder durch Eis zerquetscht wurden und damit Menschen in Gefahr brachten oder gar ihren Tod verursachten, waren rund um Rügen gar nicht so selten. Eine Ursache bestand darin, dass – abgesehen vom Zicker See – bis zum Ausbau des Sassnitzer Hafens rings um Rügen kein (Not-) Hafen existierte, in dem die Schiffe bei Sturm oder winterlichem Eisgang Schutz suchen konnten. Ein Mangel, der sich vor allem bei auflandigem Wind aus Nordost bis Südost an Rügens Ostküste fatal auswirkte. Nicht von ungefähr war eine Wand des Schuppens von Leuchtturmwärter Schilling am Kap Arkona mit Brettern mit den Namen gestrandeter Schiffe, wie „Maria“, „Freden“, „Cippora“, „Mönsteräs“ und den Resten von Gallionsfiguren geradezu gespickt. Hilfe kam anfangs nur von einzelnen Personen, die wie jener Leuchtturmwärter häufig unter Einsatz ihres Lebens ganze Schiffsbesatzungen oder Einzelpersonen retteten. An Mut fehlte es den Rettern nicht, oft aber an den notwendigen Rettungsmitteln und am organisierten Zusammenwirken.
Die preußische Regierung richtete nach der Übernahme von Rügen (1815) an der Küste Rettungsstationen ein, die häufig nur mit einem Rettungsboot ausgerüstet waren. Wurde ein Schiffbruch gemeldet, eilte die Mannschaft herbei und bespannte mit Pferden den Bootswagen, der das Rettungsboot an die Küste brachte. Nachdem alle Mann darin festgebunden waren, um nicht heraus gespült werden zu können, wurde das Boot mit dem Wagen möglichst in der Nähe des verunglückten Schiffes ins Wasser geschoben. Georg Paries schildert in seinem 1926 herausgegebenen Heimatbuch einen Einsatz der Thiessower Rettungsstation: Bei Windstärke 7 bis 8 und Schneeböen bis Stärke 10 war bei Karlshagen auf Usedom der schwedische Schoner „Juno“ auf ein Sandriff gelaufen und drohte von den Brechern zermalmt zu werden. Per Telegraf wurde die Rettungsstation alarmiert, das Boot wurde 7:45 Uhr zu Wasser gelassen und machte sich mit zwölf Thiessower Lotsen unter Lotsenkommandeur Bartels auf den Weg. Die rund 22 km (!) wurden in 2½ Stunden gerudert. Unter Lebensgefahr wurden die Besatzungsmitglieder des Schoners in das Rettungsboot gebracht, zwei von ihnen waren erstarrt und mussten aus den Seilen, mit denen sie sich an den Masten gesichert hatten, losgehackt werden. Um 17:15 Uhr kam man wieder in Thiessow an, einer der Schweden war auf der Rückfahrt verstorben.
Zur besseren technischen Ausstattung der Rettungsstationen wurde aus England für Testzwecke ein Manbyscher Rettungsapparat geordert. Das Wirkungsprinzip des vom britischen Hauptmann George William Manby entwickelten Apparates bestand im Abschießen von siebenpfündigen Kugeln mit feststehender Öse, an der eine dünne Leine befestigt war. Über ein havariertes Schiff geschossen, blieb die Leine in der Takelage hängen, und man konnte entweder vom Schiff oder von Land eine starke Trosse heranziehen, an der die Besatzungsmitglieder des Havaristen mittels Hosenboje (eine Erfindung des Engländers Kisbee) gerettet werden konnten. Der Brockhaus erklärt die Hosenboje als „mit wasserdichtem Segeltuch überzogener Korkring, an dem eine kurze ebenfalls aus Segeltuch gefertigte Hose sitzt.[…] Die Schiffbrüchigen steigen einzeln in die Hosenboje und werden mit ihr an Land geholt.“(Brockhaus 1886) Die Mörser und Leinen befanden sich auf Pferdefuhrwerken und konnten somit in die günstigste Schussposition gebracht werden. Ganz neu war die Idee nicht: In der Literatur wird auf den Kolberger Tuchmacher Ehrgott Friedrich Schäfer verwiesen, der 1784 einen mit einer Schnur verbundenen Stock mit einer Flinte oder Kanone an Land schießen wollte, um eine Verbindung zwischen gestrandetem Schiff und Land herzustellen. Artillerieoffiziere des Alten Fritz schätzten die Erfindung jedoch als „nicht practicabel“ ein.
Ab 1855 wurden nach erfolgreichen Tests staatliche Rettungsstationen in Göhren, beim Hülsenkrug in Neu-Mukran und in Glowe eingerichtet und mit Manbyschen Apparaten ausgestattet, mit denen Entfernungen von circa 240 bis 320 Metern überwunden werden konnten.
Am 24. Januar 1866 fand die erste Generalversammlung des „Neuvorpommersch-Rügenschen Vereins zur Rettung Schiffbrüchiger“ statt. Als Folge eines seiner Beschlüsse wurde in Putgarten nahe dem Kap Arkona ein Rettungsschuppen (heute Feuerwehrgebäude) gebaut.
1870 kam es bei Kap Arkona zu spektakulären Tests eines neuen Rettungsmittels: Am 5. Oktober fanden unter der Leitung des Navigationslehrers Engel von der Seefahrtsschule Stralsund Versuche mit Raketen-Rettungs-Apparaten, den so genannten Spandauer Leinenraketen statt. Sie versprachen doppelte Schussweiten (bis 600 Meter) und waren leichter als die herkömmlichen sieben-pfündigen rund 140 Kilogramm schweren Mörser. Eine detaillierte, neun Punkte umfassende und mit einer Skizze versehene „Anweisung zur Handhabung des Raketen-Apparates“ erläuterte den Schiffbrüchigen die notwendigen Handgriffe. Der Brockhaus von 1886 beschrieb die Vorteile des Raketenapparates gegenüber den Mörsern: „Der erste heftige Pulverstoß (des Mörsers – d. A.) brach […] öfter die Leine, während die Raketen eine geringere Anfangsgeschwindigkeit haben, deshalb sicherer und jetzt allgemein gebräuchlich sind.“
Die Tests mit den „Spandauer Raketen“ müssen erfolgreich gewesen sein, denn einige Rettungsstationen stellten sich schrittweise auf den Raketenbetrieb um. So konnte das Rügensche Kreis- und Anzeigeblatt am 9. März 1904 zum Beispiel von der vor Lohme erfolgten Strandung der Oldenburger Jacht „Maria“, die von Emden mit Kohle nach Danzig unterwegs war, berichten: „Die Besatzung wurde mittels Raketenapparat von hiesigen Einwohnern gerettet.“
Wenige Monate später ereignete sich bei einer Übung mit dem Raketenapparat bei Crampas-Sassnitz, über die das Rügensche Kreis- und Anzeigeblatt vom 21. Oktober 1904 berichtete, „[…] ein gefahrvoller Zwischenfall, indem die Rakete in der Luft explodierte; glücklicherweise richteten die umherfliegenden Eisenteile keinen Schaden an“. Das gleiche Blatt berichtete am 24. November 1905 von einem ähnlichen Ereignis in Glowe. Hier wurde anlässlich der Revision der Rettungsstation durch den Inspektor der Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger Bosse eine Übung am Übungsmast mit den alten Raketen von 1891 durchgeführt. „Zwei derselben zersprangen in tausend Stücke; ja, eine flog eine Strecke vorwärts und kam dann zurück und bohrte sich in die Erde. Dem Herrn Revisor flogen ganz nette Stücke am Kopfe vorbei. Zum Glück wurde niemand verletzt. Die Geschosse sind mangelhaft verarbeitet gewesen. Die modernen Raketen, welche jetzt nur noch verwendet werden, haben statt des eisernen Mantels einen solchen aus Kupfer.“
Im Juli 1868 übernahm die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger alle staatlichen Rettungsstationen und baute sie schrittweise aus. Bereits 1880 bestanden damit auf Rügen Rettungsstationen in Thiessow (Ost, 1876 gegründet), Göhren (1855), Lohme (1874), Glowe (1855), Putgarten (1866) und Dranske (1875) sowie in Binz (1878) und Saßnitz (1872/73). Die letztgenannten beiden Stationen ersetzten die Rettungsstation beim Hülsenkrug in Neu-Mukran, die durch die Sturmflut im Jahre 1872 vernichtet wurde. Hinzu kamen später die Stationen auf der Greifswalder Oie (1881), auf dem Ruden und in Thiessow-West (1900 und 1901).
Die Einsätze und Übungen der Rettungsmannschaften wurden bald zu einem Touristenmagnet: „In jedem Jahr werden einmal Übungen mit den Rettungsgerätschaften ausgeführt. Für die Fremden ist es immer hochinteressant, wenn die Lotsen und Fischer zu Rettungsmanövern zusammengerufen werden. Der Raketenapparat wird aufgestellt, gerichtet und unter dem Kommando des Oberlotsen eine Rakete nach dem am Fuße der Düne hinter dem Herrenbad stehenden Übungsmaste geschossen. Fast stets saust die Rakete über den Mast hinweg und bleibt mit der Leine in den Raaen hängen. Schnell ist die Verbindung hergestellt, und mit der Hosenboje beginnt das Abbringen der ‚Schiffbrüchigen‘“, schrieb Georg Paries 1926 in seinem Rügenschen Heimatbuch über die Rettungsstation am Thiessower Oststrand.