19. Jahrgang | Nummer 18 | 29. August 2016

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Parsifal im Nahostkrieg, August mit grünem Daumen, Falstaff ohne Hosen sowie ein sexy Goethe-Geldklau-Krimi…

***

Fünfeinhalbtausend Steine wurden ausgetauscht. Nun glänzt die Scheune auf dem Grünen Hügel wieder frisch. So wie zu ihrer Einweihung 1876 auf einsamer Wiese vor den Toren eines oberfränkischen Residenzstädtchens mit Richard Wagners „Ring“ – bis heute ein beispielloses Unternehmen. Allein schon hinsichtlich gigantischer Kosten: Da errichtet sich ein im Geldbeschaffen, Komponieren, Dichten, Denken, Träumen, Lügen und Herrschen genialer Künstler ein Opernhaus ausschließlich zur Aufführung seiner Werke zu sommerlichen Festspielen in Bayreuth. – Wieso Größenwahn? Dieser Mann hatte einfach die entsprechende Größe.
Also 5500 neue Ziegel im für viele Millionen Euro perfekt sanierten historischen Gemäuer. Aber auch innen, im Zuschauerraum, gleichend einem antiken Amphitheater, strahlt die diskret pompejische Ausmalung wie neu. Am schönsten freilich leuchtet dieser herrliche Festsaal zum Finale der „Parsifal“-Inszenierung von Uwe Eric Laufenberg. Einfach, weil die Regie den simplen Einfall hatte, zum Finale die Saalbeleuchtung anzuknipsen. Beschwört doch Wagner in vielen Stunden tollster Musik die Erleuchtung, dass uns alle allein gegenseitiges Mitleid vom ewig wuchernd Bösen erlöse. Also alle Lichter an, und gut ist alles, was da hinreißend sang und musizierte.
Schade nur, dass alles, was da gespielt und gezeigt wurde auf der Bühne, ziemlich ungut war. Ist doch dieses monumentale Ideendrama voller Gewalt und Schmerz, Verführung und Unterwerfung, Sex, Liebe, Tod und Auferstehung dick verpackt mit Religiösem, Philosophischem, Psychologischem. Wer da die Ballung von Abstraktionen illustriert mit Tagesschau-Bildern wie Flüchtlingskrise, Nahost-Religionskrieg, IS-Terror im orientalischen Bade-Puff (oder gar: das christliche Abendmahl als Menschenblutschlürfen nahe am Kannibalismus), der rutscht ganz schnell ab ins unfreiwillig Alberne, ins quälend Platte. Denn Wagners „Weltabschiedswerk“ von 1882 ist, wie er selbst meinte, „reiner Unsinn inmitten der Interessen unserer Tage“. Ist entrückte Poesie, ein sagenhaftes Traum- und Märchenstück.
Immerhin: Zum Schluss hatte die wild mit Plattheiten um sich werfende Regie doch noch einen trefflichen Einfall: Am Sarg ihres Oberpriesters (im elenden Outfit des gekreuzigten Christus) schmeißt die jammernde Trauergemeinde, kostümiert als Vertreterin der Weltreligionen, Insignien ihres Glaubens fort in die Kiste. Zu diesem kollektiven Abwurf von Kreuz, Thora, Kippa, Koran ins sozusagen Grab der Religionen stürzt nun das rotgoldene Licht der Utopie – oder der aufgehenden Nahostsonne (ex oriente lux) – von der Bühne weiter in den Zuschauerraum. Der darf sich, begleitet vom so betörenden wie besänftigenden Gesumm aus dem Orchestergraben, erlöst fühlen von all den heillosen Gags der Szene. Und sich in optimistischer Beleuchtung freuen. Gemeinsam mit Dirigent Hartmut Haenchen, den Solisten (darunter Klaus Florian Vogt, Georg Zappenfeld, Ryan McKinny, Elena Pankratova), dem Chor nebst Statisterie – nunmehr in heutigen Allerweltsklamotten wie jedermann. Also ohne klerikale Kutten, glitzernde Bauchtanz-Bikinis oder Söldneruniformen mit Nachtsichtgerät und Sturmgewehr. Und der Vorhang bleibt offen. Wie auch alle weiteren Fragen. Bis das grandiose Bühnenpersonal abgetreten ist und das Bravo-Publikum den Saal verlassen hat nach gut sechs Stunden.

***

Er hat sich für Gott und womöglich noch viel mehr für die Welt interessiert, der umtriebige, oberschlaue Kurfürst August; ein massiger Kerl mit hoher Stirn, Vollbart, Halbglatze. Der frühe Luther-Fan regierte von 1553 an 33 glorreiche Jahre sein Sachsenland; auch, indem er es mit seiner höchst modernen Grundeinstellung, mit Wissenschaft, Technik und Kunst gar heftig zum Blühen brachte.
Apropos Blühen: Der Landesvater hatte einen ausgeprägt grünen Daumen. Folglich beschaffte er sich für seine üppige Hobby-Gärtnerei einen opulenten Bestand entsprechender Geräte: Schaufeln, Hacken, Spaten, Rechen, Scheren, Pflanzhölzer. Die wurden von den Nachfahren mit geradezu rührendem Respekt aufbewahrt („bloß nischt wegwerfen“). Und sind jetzt in ihrem noch immer tadellosen Zustand präsentiert im Georgenbau des Dresdner Residenzschlosses. Als Teil der neuen Dauerausstellung „Weltsicht und Wissen um 1600“.
Freilich zeigt die Schau nicht allein diese mehr als vier Jahrhunderte alten Gerätschaften, sondern dazu allerhand Schätze aus der von August gegründeten Kunstkammer. Etwa einen prima gefüllten Werkzeugschrank (der Kurfürst als Hobbybastler). Witzig: Ein Spinett mit eingebauter aufklappbarer Platte fürs Tricktrack (der Kurfürst als Spieler). Und erstmals werden erhaltene frühreformatorische Kostbarkeiten aus der 1945 kriegszerstörten Schlosskapelle gezeigt: der Taufstein, liturgische Silbergefäße und die wie durch ein Wunder vom Brand verschonte Eichenholztür von 1556.
Überhaupt ist es ein Wunder, was an den „kleinen“ Dingen vom unermesslichen Reichtum an Großartigkeiten aus dem Besitz der Wettiner nach all den Kriegen noch vorhanden ist. Aus den Verstecken der Depots hervorgesucht, neu geordnet und ins rechte Licht gesetzt, darf’s die Allgemeinheit erstaunt bewundern.

***

Noch immer ist die hölzerne Arena „Monbijou“ der wohl schönste Sommertheaterspielplatz Berlins. Freilich, allein schon die Lage ist Spitze am Ufer der Spree mit Ristorante, bayerisch Bier, Strandbar sowie nächtlichem Walzer-Tango-Salsa-Tanzbetrieb gegenüber der illuminierten Prunkfassade des Bode-Museums. Und hat man Glück, hängt der rote Augustmond in den alten Bäumen. Allein das schon wäre eine satte Portion herrlichstes Sommerabendtheater. Doch da gibt’s ja noch Goethe und Shakespeare obendrauf …
Die Klassiker sind ja längst nicht nur was für drinnen in unsern feinen Theaterstuben. Klassik draußen unter freiem Himmel ist allerorten Kassenschlager; eben weil die Klassiker gewieft genug waren, selbst in ihren fix hingeworfenen Gelegenheitsstücken um Liebe, Sex, Intrige, Verrat ordentlich Kraft, Witz und Aberwitz aufzufahren, um ein unbedarftes Publikum zu packen, ohne dabei die sich für gebildet haltenden Kreise unbefriedigt sitzen zu lassen. Also Volkstheater! Animierend zum Mitmachen – die Besucher im Monbijou ließen sich da nicht lange bitten und spielten, wo immer es sich nur anbot, begeistert mit.
Das verlangt freilich den vehementen Einsatz der plebejischen Stücke-Verwurstungsmaschine Marke Jux und Tollerei; Motto: „Kluge Blödelei ist niemals öde, doch öder Tiefsinn immer blöde.“ Doch besonders das will gekonnt sein. Die von Isa Mehnert prächtig kostümierten Ensembles für Goethes „Die Mitschuldigen“ sowie Shakespeares „Die lustigen Weiber von Windsor“ sind da schon mal perfekt konditioniert auf Slapstick, Singsang, Groteske und punktgenaues Setzen von jederart Gags. So kann schon mal nix schief gehen. Wobei Hausregisseur Darijan Mihajlovic für den lüsternen Shakespeare-Suffkopp Falstaff und seine depperten Liebeshändel mit den Windsorschen Weibern deutlich ungenierter in die Klamottenkiste griff als Gastregisseur Maurici Farré bei Goethes kriminalistisch wie sexuell aufgeladenem Katz-und-Maus Spiel, das am Ende sämtliche der höchst gegensätzlichen Beteiligten schuldig spricht. Umso mehr tobte er sich aus mit Pantomimen und V-Effekten und erfand obendrein – dramaturgisches Kabinettstückchen – eine tolle Schlusspointe, die hier nicht verraten wird.
Aber auch Mihajlovic ersann ein berückendes Finale, indem er – oho! – Fettwanst Falstaff die Hosen fallen ließ; was zunächst nix neues wäre. Doch der nun halbnackt dastehende, schmächtige Schauspieler imaginiert – das perplexe Publikum lässt die Bierflaschen fallen – die traurige Seite des dicken Deppen. Indem er Shakespeares von schwerer Liebessehnsucht summendes 91. Sonett hersagt: „Der Herkunft setz ich deine Lieb entgegen, / die mehr als Kleider wert ist oder Geld, / auch Habicht oder Hund sind nichts dagegen, / dich haben ist das höchste Gut der Welt. / Mein Unglück wäre nur, nähmst du zurück / dies alles, dann verlör ich all mein Glück.“
Mit diesem herzigen Williams-Wunsch grüße ich die liebe Leserschaft zu meinem 80. Querbeet.