von Manfred Orlick
Als Wolfgang Hilbig 2002 mit dem Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung geehrt wurde, waren die Feuilletons voll des Lobes. So nannte ihn Die Welt einen „großen Vertreter der literarischen Moderne“, dessen „Prosaarbeiten eine Welt eigenen Rechts errichteten, die wenig Rücksicht auf die traditionellen realistischen Erzählmodelle nimmt, sondern mit beeindruckender Intensität und hoher Sprachkraft Randbereiche der alltäglichen Wahrnehmung auszuleuchten und die Grenzen zu neuen Wahrnehmungsformen zu überschreiten versucht.“ Als der Schriftsteller fünf Jahre später, am 2. Juni 2007, einem Krebsleiden erlag, würdigte ihn Die Zeit als einen „der gewaltigsten Meister der deutschen Sprache der Gegenwart, der eine wahrhaft existenzielle Literatur in den letzten zwei, drei Jahrzehnten geschaffen hat, wie es sie vergleichbar gar nicht gab“.
Am 31. August wäre Wolfgang Hilbig 75 Jahre alt geworden. Geboren 1941 im sächsischen Bergbaustädtchen Meuselwitz, wurde er von der Mutter und den Großeltern aufgezogen, denn der Vater war nicht aus dem Krieg zurückgekommen. Zunächst erlernte der junge Hilbig den Beruf eines Bohrwerksdrehers, später arbeitete er als Monteur, Heizer und Kesselwart im Meuselwitzer Braunkohletagebau. Seit Anfang der 60er Jahre entstanden erste Gedichte, Hilbig war Mitglied im „Zirkel schreibender Arbeiter“. Als er keinen DDR-Verlag für seine kritischen Texte fand, vernichtete er sie. Es waren Verse wie „Bitte lasst mich ein wenig noch sterben!“ Die Kulturfunktionäre konnten damit nichts anfangen. Dabei hätte aus dem Musterbeispiel eines „schreibenden Arbeiters“ ein Vorzeige-Dichter werden können, schließlich zeigte Hilbig Talent und Beharrlichkeit. Stattdessen wurde er ab 1968 von der DDR-Staatssicherheit als „feindlich-negativer Nachwuchsschriftsteller” eingestuft. Lesungen im Freundeskreis waren die einzige Möglichkeit, seine Gedichte vorzustellen, so auf der sogenannten „Motorbootlesung” am Leipziger Elsterstausee.
In der DDR nicht veröffentlicht, wurden einige von Hilbigs Gedichten 1977 im Hessischen Rundfunk vorgestellt, fünf erschienen ein Jahr später – nicht autorisiert – in der Anthologie „Hilferufe von drüben”. Den Kontakt hatte der in die BRD ausgewiesene Schriftsteller Siegmar Faust hergestellt.
Im Frühjahr 1979 zog Hilbig nach Berlin, im August veröffentlichte der S. Fischer Verlag seinen ersten Lyrikband „abwesenheit“, wofür der Autor wegen „Verstoßes gegen das Zoll- und Devisengesetz der DDR” zu einer Geldstrafe von 2000 Mark verurteilt wurde. 1982 zog es ihn nach Leipzig, ein Jahr später erschien auf Drängen Franz Fühmanns und Stephan Hermlins nach zähen Auseinandersetzungen mit dem Kulturministerium Hilbigs erstes und einziges Buch in der DDR: der Reclam-Band „STIMME STIMME“ mit Gedichten und Kurzprosa. Im November desselben Jahres durfte er sogar nach Hanau reisen, zur Entgegennahme seines ersten Literaturpreises, des „Brüder-Grimm-Preises“.
Der Deutsche Literaturfonds in Darmstadt sprach Hilbig 1985 ein einjähriges Stipendium zu, daraufhin erhielt er von den DDR-Behörden ein Einjahresvisum, das später verlängert wurde. Obwohl im Westen in kurzer Folge „Der Brief. Drei Erzählungen“ (Collection S. Fischer), „Die Territorien der Seele“ (fünf Prosastücke, Friedenauer Presse) und der Gedichtband „versprengung“ (S. Fischer) erschienen, blieb er dort wie in der DDR ein Außenseiter. Der Westen war für ihn eine Schreibblockade, er floh in den Alkohol und musste schließlich eine Entzugsklinik aufsuchen.
In den Jahren nach der Wende fand er seine Schöpferkraft wieder – unter anderem erschienen seine beiden Romane „Eine Übertragung“ (1989) und „Ich“ (1993). Mit Einfallsreichtum und einer eigenen Sprache erkundet Hilbig darin die rätselhafte und verletzte Gegenwart.
1994 siedelte Hilbig erneut nach Berlin (Prenzlauer Berg) um und hatte hier Kontakte mit zahlreichen Berliner Künstlern. Wiederum bei S. Fischer veröffentlichte er sein letztes großes Werk, den Roman „Das Provisorium“, der unübersehbar auf autobiografischem Material aufbaut. Hilbig schreibt sich damit seine Persönlichkeitskrise, seine Verzweiflung, seine Entwurzelung und seine alkoholischen Exzesse gewissermaßen vom Leibe.
Zwei Stadtschreiberstellen, im brandenburgischen Rheinsberg und in Bergen-Enkheim, einem Stadtteil von Frankfurt am Main, ermöglichten ihm zeitweise eine finanzielle Absicherung. Im Februar 2007 wurde mehr zufällig eine unheilbare Krebserkrankung diagnostiziert. Hilbig konnte mit der S.-Fischer-Stiftung noch einen Vertrag über eine Werkausgabe abschließen (von sieben Bänden sind bis 2013 sechs erschienen). Am 2. Juni 2007 starb Wolfgang Hilbig, eine Woche später wurde er auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beerdigt.
Neben dem Georg-Büchner-Preis war Hilbig mit weiteren renommierten Preisen ausgezeichnet worden, darunter der Ingeborg-Bachmann-Preis (1989), der Bremer Literaturpreis (1994) und der Fontane-Preis der Akademie der Künste (1997). Trotz dieser Ehrungen blieb er ein schriftstellerischer Außenseiter sowohl im geteilten wie im vereinten Deutschland – keiner Welt zugehörig. Ein Schicksal, das er mit vielen ehemaligen DDR-Künstlern teilte.
Schlagwörter: Literatur, Lyrik, Manfred Orlick, Schriftsteller, Wolfgang Hilbig