19. Jahrgang | Nummer 14 | 4. Juli 2016

NATO-Rüstung – Schritt zu mehr Sicherheit?

von Jerry Sommer

Die NATO will auf ihrem Gipfel Anfang Juli in Warschau erneut beschließen, ihre Präsenz in osteuropäischen Ländern zu verstärken. Unter anderem soll es noch mehr Militärübungen geben, weiteres schweres Gerät soll eingelagert werden. Vor allem aber soll in Polen, Estland, Lettland und Litauen jeweils ein Bataillon mit rund 1000 Soldaten fortwährend auf Rotationsbasis (alle neun Monate) stationiert werden. Polen und Balten fordern eine permanente Vornestationierung von NATO-Truppen, doch viele andere Bündnismitglieder lehnen das ab, weil dies ein Verstoß gegen die NATO-Russland-Grundakte von 1997 wäre.
Diese vier Bataillone werden sicher politisch die Botschaft aussenden, dass die NATO im Falle eines Angriffs gemeinsam handeln wird. So schätzt es jedenfalls Karl-Heinz Kamp, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin, ein: „In einem potenziellen Angriff würden nicht nur Polen und Balten sterben, sondern auch Deutsche, Franzosen, Briten und vor allem Amerikaner. Und das verändert das Kosten-Nutzen-Kalkül für jeden Angreifer.“
Der militärische Nutzen für die Sicherheit der baltischen Staaten und Polens dürfte hingegen gleich Null sein. Denn an der Geographie und der regionaler Überlegenheit Russlands würden diese vorne stationierten NATO-Truppen nichts ändern, erklärt selbst Egon Ramms, ein ehemaliger ranghoher deutscher NATO-General: „Sie tragen zu einer – da muss man aber ehrlich sein – geringfügig erhöhten Verteidigungsbereitschaft bei. Das heißt, neben dem politischen Effekt ist das militärisch kein so ganz großer Unterschied.“
Das sei vergleichbar mit der Situation im Kalten Krieg, meint auch der Sicherheitsexperte Karl-Heinz Kamp: „Im Kalten Krieg wäre Berlin nicht zu verteidigen gewesen. Der Warschauer Pakt hätte Berlin in wenigen Tagen, wenn nicht Stunden, überrennen können.“
Zudem würde Russland im Konfliktfall der Verlegung der NATO-Speerspitze und weiterer Krisenreaktionskräfte nicht tatenlos zuschauen: Russische Truppen in Kaliningrad, die Baltische Flotte, die Luftwaffe oder sogar Bodentruppen, die zur Ostsee vorstoßen, würden sicherlich versuchen, NATO-Verstärkungen zu blockieren.
Nach Meinung des Russlandexperten Michael Kofman vom Woodrow Wilson Center in Washington ist es für die NATO im Baltikum unmöglich, eine militärische Abschreckung aufzubauen, die Russland davon abhalten könnte, Gebiete in der Region militärisch unter Kontrolle zu bringen. Daher ist für ihn diese Art der Abschreckung sinnlos. Sie sei auch gar nicht notwendig: „Abschreckung durch Androhung von Bestrafung funktioniert sehr gut. So hatten wir uns auch im Kalten Krieg aufgestellt. Einen sowjetischen konventionellen Angriff auf Deutschland hätten wir nicht verhindern können. Aber wir wussten, dass jeder Krieg sehr schnell zu einem Nuklearkrieg eskalieren würde. Wir haben abgeschreckt durch die Androhung einer Bestrafung. So ist es auch heute noch im Hinblick auf Russland.“
Auch Oberst a.D. Wolfgang Richter von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) warnt davor, regionale, taktische Kräfteverhältnisse im Baltikum überzubewerten: „Die NATO ist Russland europaweit und global weit überlegen. Es gibt kein vernünftiges strategisches Rational für Russland, einen Krieg gegen die NATO zu riskieren. Russland muss wissen und weiß es auch, das der Artikel 5 des Washingtoner Vertrages gilt und dass es hier in ein Desaster rennen würde, wenn es einen Krieg mit der NATO riskiert.“
Eine Bedrohung der baltischen Staaten und Polens hält die NATO vor allem durch das Vorgehen Russlands in der Ukraine für gegeben. Doch die Fakten sprechen nicht für solch eine Bedrohungsperzeption: Auf der Krim, so SWP-Mitarbeiter Wolfgang Richter „ging es um die strategischen Interessen an der Sicherung der Flottenbasis“. Solche strategischen Interessen hat Russland im Baltikum nicht.
Auch die tatsächliche Aufstellung der russischen Streitkräfte lässt bisher nicht auf eine Bedrohung dieser NATO-Staaten schließen. Im westlichen Militärbezirk Russlands wurde die Truppenstärke seit 2009 um rund 80.000 Soldaten reduziert. Russland hat zwar kürzlich angekündigt, dort jetzt neue Truppenteile aufzustellen. Allerdings sollen sie im Grenzgebiet zu Belarus und der Ukraine stationiert werden. Richter dazu: „Wir sehen keinen russischen Aufmarsch an den baltischen Grenzen. Russland hält derzeit noch die Zurückhaltungsverpflichtung für die Regionen Pskow, das ist das an Estland und Lettland angrenzende Gebiet, und Kaliningrad ein.“
Trotzdem fordern manche Politiker und Militärs aus NATO-Staaten schon jetzt, über die gegenwärtigen Planungen hinaus weitere Truppen im Baltikum zu stationieren. Zum Beispiel der ehemalige Vier-Sterne-General Egon Ramms: „Langfristig sehe ich das so, dass es zweckmäßig wäre, in jedem der baltischen Staaten eine Brigade zu stationieren, auch diese im Rotationsverfahren, um die NATO-Russland-Grundakte nicht zu verletzen.“
Statt viermal 1000 Mann also vier Brigaden von je bis zu 5000 Soldaten. Es sei dahingestellt, ob das wirklich mit der NATO-Russland-Akte vereinbar wäre. US-Militärexperte Michael Kofman kritisiert, dass die „russische Gefahr“ oft übertrieben werde – und er kritisiert die Auffassung, dass mehr Militär auch immer mehr Sicherheit bedeute: „Wenn wir die militärische Präsenz an den russischen Grenzen zu sehr erhöhen, schaffen wir eine Unsicherheit für die Enklave Kaliningrad und für St. Petersburg, das nahe den baltischen Staaten liegt. Dann werden die Russen ihrerseits viel mehr Kräfte an den NATO-Grenzen stationieren.“ Die Sicherheit der baltischen NATO-Staaten würde damit eher geschwächt als gestärkt.
Ein weiteres Thema ist die Frage, welche Rolle die NATO-Nuklearwaffen in Zukunft bei der Abschreckung spielen sollen. Diejenigen, die Russland aggressive Absichten unterstellen, sagen auch, dass Moskau bei Militäroperationen gegebenenfalls Nuklearwaffen einsetzen würde – zum Beispiel um mögliche Geländegewinne gegen NATO-Gegenangriffe zu verteidigen. Schon fordern einige US-Senatoren zu überlegen, mehr taktische Atombomben oder nuklearwaffenfähige Flugzeuge in Europa zu stationieren. Einige Militärexperten schlagen vor, Polen solle – wie zum Beispiel auch Deutschland – Trägersysteme für US-Atomwaffen bereitstellen. Und der ehemalige NATO-General Egons Ramms meint: „Wir haben keine durchgehende Nuklearstrategie, die auf kleinerem Niveau Eskalationsmöglichkeiten böte, um auf die russische Strategie zu antworten.“
Sicherheitsexperte Wolfgang Richter warnt davor, von der bisherigen NATO-Linie abzurücken und den Nuklearwaffen wieder eine größere Bedeutung oder sogar eine operative Rolle zuzuweisen: „Wer Nuklearwaffen einsetzen will – sei es auf eigenem Gebiet oder in dem Fall, dem Gebiet Russlands – wird eine Eskalation und vor allem eine humanitäre Katastrophe auslösen. Insofern halte ich dieses Spiel mit solchen Optionen für unverantwortlich.“
Auf dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli werden die Staats-und Regierungschefs wohl nicht über die künftige Rolle der Nuklearwaffen entscheiden. Aber vieles spricht dafür, dass darüber nach dem Treffen im Bündnis diskutiert wird.
Nicht zu erwarten sind vom Gipfel neue Vorschläge, wie man die Sicherheit in Europa politisch durch Rüstungskontrolle erhöhen könnte. Das läge nicht nur an Moskau, glaubt der Berliner Sicherheitsexperte Karl-Heinz Kamp: „Natürlich kriegen sie das auch nicht in der NATO durchgesetzt, weil die Osteuropäer sagen, wir müssen erst mal unsere eigene Sicherheit wieder haben und danach können wir wieder über Rüstungskontrolle reden.“
Doch Sicherheit in Europa ist nicht militärisch zu gewährleisten. Nötig wären jetzt Absprachen zwischen NATO und Russland über Transparenz sowie über eine Begrenzung von Manövern in den Grenzregionen. Mittelfristig müsste über Begrenzungen bei der Stationierung von Truppen und Militärgerät in diesen Gebieten verhandelt werden. Andernfalls droht die gegenseitige Aufrüstungsdynamik ungebremst weiterzugehen.

Der Artikel ist eine leicht veränderte Version eines Beitrages für „Streitkräfte und Strategien“ (NDR-Info, 18.6.2016).