von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein die Weiber verschlingender Proll aus Berlin, eine nach Genie verrückte Aristokratin aus Weimar …
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Er wurde ein Welterfolg, der Großstadt-Roman „Berlin Alexanderplatz“ des Kreuzberger Kassenarztes Alfred Döblin, erschienen 1929. Und er gibt saftig Futter für Film (Rainer Werner Fassbinder) und Theater – in Berlin nach 1990 gleich dreimal: 1999 am Gorki gab Ben Becker den Franz Biberkopf, den armen weibstollen Hund, der sich im Großstadtdschungel zwischen Alex und Oranienburger mehr oder weniger tapfer durchschlägt (Regie Uwe Eric Lauffenberg, Bearbeitung Oliver Reese); 2005 Frank Castorfs Züricher Inszenierung, die dann in der Abrissruine vom DDR-Palast der Republik in der Mitte Berlins ein Hit war. Und 2009 an der Schaubühne unter Volker Löschs Regie mit echten Knackis als Proletenchor aus der JVA Tegel.
Nun also zum vierten Mal: Am Deutschen Theater inszenierte Sebastian Hartmann den in Montagetechnik virtuos konstruierten literarischen Großklopper, der das schwere Schicksal des wild-verwegenen, virilen Proleten Biberkopf einbettet in die panoramahaft ausgemalte, bizarr schillernde, elende Wirrnis der explodierenden Metropole Reichshauptstadt Berlin.
Hartmanns künstlerisch hoch anspruchsvoller Zugriff geht – Respekt! – in die Abstraktion. Er vermeidet, was naheliegend wäre, naturalistische Milieu-Schilderung und inszeniert – gestützt auf einen Chor, einen Erzähler (Moritz Grove) und reichlich biblische Ikonografie – eine Art Meditation über Döblins literarische Polyphonie, die ein paar Stichworte auf den Punkt bringen: Liebe, Triebe, Verrat, Macht, Gewalt und Tod. Wir erleben auf weiter leerer Bühne zwischen grell weißen, fahrbaren Licht-Türmen statt einer farbsatt ausgepinselten heißen „Story“ einen von Wahn und Irrsinn durchsetzten, expressiv in kaltes Schwarz-Weiß gehaltenen Totentanz, eine assoziationsreiche, oft ins Mythische greifende Passionsgeschichte.
Es sind nur wenige, sonderlich erotisch signifikante Szenen des Romans, die von geradezu erschreckend hinreißenden Schauspielern (unter anderem Andreas Döhler, Edgar Eckert, Felix Goeser, Wiebka Mollenhauer, Katrin Wichmann) demonstrativ an der Rampe gespielt werden. Aber: Das Erzählerische, das sagen wir Romaneske, das bleibt auf der Strecke zugunsten des weitschweifend, zuweilen auch angestrengt, sogar diffus Assoziativ-Meditativen. So präzise und wirkungsmächtig das Ensemble auch auftritt, die Kraft der Regie hält nicht entsprechend durch; schon gar nicht in den vier Stunden Spieldauer. Der so furios anhebende und immer wieder artifiziell sich aufbäumende Abend zerfasert und ermüdet durch Redundanz. Schade. Hartmann, der tolle Hecht, immerzu überschäumend vor Fantasie (aber manchmal auch nur vor Einfällen), ist diesmal und sozusagen auf halber Strecke stecken geblieben.
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„Er war ein Lump als er kam. Und ich erzog ihn, jetzt haben wir einen erzogenen Lumpen.“ – Er, das ist Goethe, dieser vom Weimarer Herzog angeschleppte Jungadvokat. Ein frecher Schnösel, aber begabt und schon wahnsinnig berühmt („Werther“!). – Und wer ihn da „erzog“ und überhaupt erst gesellschaftsfähig machte, fürs Staatsamt zurichtete, das ist Charlotte Albertine Ernestine Freifrau von Stein; eine gesellschaftliche Institution der Residenzstadt, diesem hübschen Kaff an der Ilm.
Als Goethe Ende 1775 sein Amt als intellektuelle Allzweckwaffe bei Hofe antrat, ist die gebildete, geistreiche, doch vom höfischen Klein-Klein unterforderte Charlotte Anfang Dreißig, verheiratet und vielfache Mutter. Sie verknallt sich sofort in G. Der ist Ende Zwanzig, knackig und gibt den genialen Hallodri. Sie wird seine Muse. Noch heute rätselt alle Welt darüber, wie sehr oder wie wenig intim diese Beziehung wohl war. Angeblich kam es am 10. Oktober 1780 zum Knackpunkt, an dem er versagte. Sagt sie. Er sagt dazu nix. Doch sechs Jahre später haut er ab aus Weimar nach Italien. Und bleibt zwei Jahre dort. Charlotte ist obersauer. Trotzdem: Briefe eilen hin und her. Doch Lotte wartet immerzu nur auf den einen: auf Goethes Heiratsantrag …
Der Dramatiker Peter Hacks hat diese Wartezeit auf hundert Minuten verkürzt, die er füllt mit einer fulminanten Rede, mit der Charlotte ihren Angetrauten auf Ehebruch und Scheidung vorbereitet. Doch der Heiratsantrag bleibt aus. Wie sie damit klar kommt oder eben nicht, darüber schrieb Hacks sein „Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe“.
Der Monolog ist eines der meistgespielten Stücke des 20. Jahrhunderts. Es kam in 200 deutschsprachigen Theatern und darüber hinaus in 21 Ländern auf die Bühne. Der funkelnde Text erklärt, was es heißt, ein Genie zu sein: „Er brauchte kein Einverständnis mit der Schöpfung, er selbst war Schöpfer. Goethe beleidigt, indem er ist. Ohne ihn sind wir nichts.“ So tönt lust- und schmerzvoll die enttäuschte, zugleich aber durch „ihn“ in den Weltruhm katapultierte Stein. Hacks legt ihr sein Goethe-Bild in den Mund und spiegelt sich zugleich selbst darin. Sieht er sich doch als ein Goethe seiner Zeit – und das war die kleinkarierte der DDR …
Obendrein ist der genialisch flirrende Text eine arg unkorrekte Betrachtung über Geschlechterbeziehungen, eine Feier weiblicher Intelligenz und Emanzipation, aber auch eine vertrackte Liebeserklärung an die damalige Lebensgefährtin des Autors, an die Schauspielerin Karin Gregorek (gegenwärtig im Fernsehen als kauzige, Alkohol und Nikotin heimlich zugetane Klosterschwester Felicitas in der ARD-Serie „Um Himmels willen“). Die große Gregorek brachte denn auch den Hacks-Klassiker, diese hinreißend sarkastische Boulevardkomödie für Bildungsbürger, in Berlins Gorki-Theater anno 1976 zur Uraufführung.
Jetzt im Berliner Renaissance-Theater gibt Anika Mauer die so anmaßende, wütende, sich verraten fühlende und dennoch ihren Verräter irgendwie verstehende Charlotte von Stein – rhetorisch eine Meisterleistung, ganz dem Glanz des Textes dienend. Inszenatorisch stützt sie Johanna Schall, die, klug wie die im Umgang mit wahrer Größe erfahrene Brecht-Enkelin nun mal ist, sich nie besserwisserisch gibt dem Autor gegenüber. Die schillernde Gedanken-Revue inszeniert die Schall mit zarter Hand und feiner oder eben handfester Ironie. Braucht doch die Höhe des Textes keine bedeutungsheischende Garnierung. Ein amüsanter, abgründig weiser Abend. Eine Hommage auf den beispiellosen Hacks, der da in knapp zwei Stunden Text ganze philosophisch-psychologische Essaybände komprimiert. Auf Goethe. Auf die Stein.
„Ein Gott hat das Recht uneingeschränkter Selbstsucht.“
Vielleicht (gelegentlich) schlimm.
Und doch schööön!
Schlagwörter: Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz, Charlotte von Stein, Deutsches Theater, Goethe, Johanna Schall, Karin Gregorek, Peter Hacks, Querbeet, Reinhard Wengierek, Renaissance-Theater, Sebastian Hartmann