von Klaus Hammer
Er war der vielleicht kosmopolitischste Mensch, der je gelebt hat, ein Kronzeuge seiner Zeit, schreibt sein Biograf, der amerikanische Historiker Laird M. Easton, über Harry Graf Kessler, den umstrittenen Schriftsteller und Diplomaten, den Museumsdirektor und Kulturpolitiker, Kunstmäzen und Sammler, den glänzenden Vertreter der europäischen Moderne. Schon die Liste derer, mit denen der „rote Graf“ – so wurde er wegen seines Rufes, ein radikaler Demokrat zu sein, ironisch bezeichnet – bekannt war, bildet ein „Who is Who“ der europäischen Kunst, Gesellschaft und Politik. Mehr als ein halbes Jahrhundert – von 1881 bis in sein Todesjahr 1937 – hat er auf mehr als 50.000 eng beschriebenen Seiten sein persönliches Leben, das Geschehen der Zeit, seine Erlebnisse und Begegnungen, seine Erinnerungen und Aufzeichnungen in Tagebüchern festgehalten – eine einzigartige Fundgrube für die (Kultur-)Geschichte der Wilhelminischen Ära bis in die Zeit des Nationalsozialismus. Diese Chronik, niedergeschrieben in den Zentren des politischen und kulturellen Lebens – in London, Paris und Berlin – sollte die Grundlage für seine Autobiographie bilden, von der Kessler aber nur einen Band vollenden konnte. Dieses Buch fiel 1935 dem Verbot durch die NS-Zensur zum Opfer. Zwei Jahre später ist Kessler in Lyon gestorben und wurde auf dem Père Lachaise in Paris beigesetzt.
Das größte Rätsel seiner Person war die Wandlung des elitären Ästheten des Fin-de-siècle zu einem prominenten Pazifisten und Demokraten der Weimarer Republik – und diesem Rätsel vor allem sucht eine Ausstellung „Harry Graf Kessler – Flaneur durch die Moderne“ der Stiftung Brandenburger Tor im Berliner Max-Liebermann-Haus beizukommen. Kessler hatte 1932 in sein Tagebuch notiert, dass es ihm in seinen Memoiren darum ginge, „die spezifische Atmosphäre einer Zeit in eine kleine Gemeinschaft von intim erlebten Menschen (zu) verdichten und aus diesem tragkräftigen dichten Boden die Persönlichkeiten und Ereignisse der Zeit hervor wachsen zu lassen. Nichts im luftlosen Raum schweben zu lassen im Vertrauen auf das Interesse, das es auch sonst als bedeutsames Ereignis oder historische Persönlichkeit für den Leser haben mag. Valeurs, valeurs, wie in einem Gemälde!“ Und so, in einer „erzählenden“ Ausstellung, sucht Kurator Christoph Stölzl mit seinem Team auch das Leben dieses Mannes „mit zu vielen Eigenschaften“ zu veranschaulichen, der unstet von einem Ort und von einem Projekt zum anderen eilte, dem ein Lebensschwerpunkt zu fehlen schien, der aber im Panorama der Zeit und Zeitgenossen eine einzigartige Rolle spielte. Es ist eine „Collage-Montage“ in Texten, Bildern und Tönen seiner Zeit entstanden, die plausibel und zugleich erkenntnisträchtig ist, die dem facettenreichen Dasein und der Welt dieses Botschafters der Kunst einen Sinn abzugewinnen und zu zeigen vermag, wie Kesslers Fragen aus einer vergangenen Zeit auch die Fragen von uns Nachgeborenen sein können.
Fünf Jahre lang (1895-1900) nahm ihn die Kunstzeitschrift PAN, ein literarisch-künstlerisches Unternehmen der Berliner Bohème, in Anspruch, in deren Spalten er auch seine ersten Überlegungen zu Kunst und Kultur, deren Dekadenz und Erneuerung, veröffentlichte. Die Missionen, die er als Mitherausgeber für PAN unternahm, machten ihn vornehmlich mit der französischen Avantgarde vertraut. Er hat sich dann auch bemüht, die impressionistische und nachimpressionistischeMalerei aus Frankreich nach Deutschland zu holen.
1903 wurde er zum Direktor des Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe in Weimar ernannt, widmete sich hier ganz der modernen Kunst und brachte seine Ausstellungskataloge in typographisch erlesener Gestalt heraus. Eine Ausstellung mit Aquarellen Rodins, sehr freizügigen Studien von Frauenkörpern, führte zu einem Skandal, in dessen Folge Kessler seinen Rücktritt einreichte. Die wechselvolle Freundschaft mit Hugo von Hofmannsthal begann, mit dem er dann das Libretto zur „Josephslegende“ (1914) von Richard Strauß verfasste, es kam zu einer engen Zusammenarbeit mit dem Designer Henry van de Velde, der seit 1907 die Weimarer Kunstgewerbeschule leitete. Kessler spielte bei der Gründung des „Deutschen Künstlerbundes“, einer Schutzorganisation für moderne Künstler, die jede Art von Staatskunst bekämpfen wollte, eine Schlüsselrolle. Er förderte als Mäzen den englischen Theatervisionär Gordon Craig, gründete einen eigenen Verlag, die Cranach-Presse, der sich zu einer der berühmtesten Privatpressen des 20. Jahrhunderts entwickeln sollte. Maillols Holzschnitte zu den Eklogen von Vergil und der von Craig illustrierte „Hamlet“ zogen die Bewunderung der Bibliophilen-Welt auf sich. Dabei sind Kesslers Leistungen als Verleger der Cranach-Presse, die 1931 geschlossen werden musste, nicht ohne Ironie: Indem er auch später Werke publizierte, die auf den Ästhetizismus der Vorkriegszeit zurückgriffen, wurde er ein Opfer des Modernismus, den er sein Leben lang gefördert hatte.
Der Erste Weltkrieg beendete den Teil seines Lebens, der in der viel umjubelten Premiere der „Josephslegende“ in der Grand Opéra in Paris seinen Höhepunkt gefunden hatte. Während der nächsten zehn Jahre sollte er nur noch für „ernsthafte Dinge“ Zeit haben: Die Politik nahm ihn jetzt in Anspruch. Von der Ästhetisierung dieses hässlichsten aller Kriege über den schmutzigen Kriegsalltag bis zum Dahinschwinden des historischen Idealismus, den Schock der Niederlage und dem Bekenntnis zum Pazifismus war es dann nur noch eine Frage der Zeit.
In der Weimarer Republik gehörte er zur bürgerlich-demokratischen Linken und nahm im Dienste des Pazifismus seine Reisen wieder auf, wurde zum Wortführer für die deutsch-französische Versöhnung, fühlte sich als de-facto-Botschafter in London, war langjähriger Präsident der Deutschen Friedensgesellschaft. Als 1926 Deutschland als ständiges Mitglied des Rates dem Völkerbund beitrat, war Kesslers politische und diplomatische Karriere so gut wie vorbei. Die Politik benötigte ihn nicht mehr und Kessler stürzte sich wieder in den gesellschaftlichen und kulturellen Strudel der späten 20er Jahre. Er brachte nicht nur seine Cranach-Presse in Schwung, sondern schrieb seine hervorragende Biographie über Walter Rathenau, der für Kessler den Mann der Tat, den „Zweckmenschen“ personifiziert. Der ihm selbst so vertraute tragische Zwiespalt dessen Charakters ist das Thema dieser Biographie. Rathenau wird als erster großer gefallener Held der deutschen Republik etabliert.
Schon 1925 hatte Kessler in sein Tagebuch notiert: „Hindenburg ist gewählt. Was folgen wird, dürfte eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte sein“. Seit 1933 lebte er in einer miserablen finanziellen Situation – schon vorher war er zum Verkauf einiger der schönsten Kunstwerke seiner Sammlungen gezwungen gewesen – teils auf Mallorca, teils in Frankreich, wo er dann auch 1937 in gänzlicher Einsamkeit starb. Doch Kesslers Offenheit für die Welt, seine leidenschaftliche Lebenszugewandtheit hat ihn, verbunden mit seiner menschlichen Attraktivität, zu einer ambivalenten Gestalt gemacht, für die das Interesse nicht erlischt, und die dafür sorgt, dass seine Tagebücher immer wieder gelesen werden. Die so sinnlich-konkret gestaltete Ausstellung im Max-Liebermann-Haus am Brandenburger Tor motiviert förmlich dazu.
Harry Graf Kessler – Flaneur durch die Moderne, Stiftung Brandenburger Tor. Max-Liebermann-Haus, Pariser Platz 7, bis 21. August 2016 täglich außer dienstags 10.00 bis 18.00 Uhr (Samstag und Sonntag erst ab 11.00 Uhr), Begleitbuch im Nicolai-Verlag Berlin 24,95 Euro.
Schlagwörter: Cranach-Presse, Harry Graf Kessler, Klaus Hammer, Max-Liebermann-Haus, Moderne, Weimarer Republik