19. Jahrgang | Nummer 13 | 20. Juni 2016

Ansichten eines dionysischen Dandys*

von Oscar Wilde

Eine Idee, die nicht gefährlich ist,
verdient es nicht, überhaupt eine Idee genannt zu werden.

Wir leben im Zeitalter der Überarbeiteten und der Untergebildeten;
einem Zeitalter, in dem die Leute derart ge­schäftig sind, dass sie völlig verdummen.

In früheren Zeiten bediente man sich der Folter.
Heutzutage bedient man sich der Presse.

Der Umstand, dass jemand ein Giftmischer ist, sagt nichts gegen seine Prosa aus. Häusliche Tugenden bilden nicht die wahre Grundlage der Kunst, obgleich sie eine ausgezeichnete Werbung für einen zweitrangigen Künstler sein können.

Erfahrung ist der Name, den jeder seinen Irrtümern gibt.

Nur Dumme urteilen nicht nach dem, was sie sehen.

In dieser Welt gibt es nur zwei Tragödien. Die eine ist, nicht zu bekommen, was man möchte, und die andere ist, es zu bekommen. Die letztere ist weit schlimmer.

Man sollte immer ehrlich spielen – wenn man die Trümpfe in der Hand hat.

Schicklich ist etwas Interessantes niemals.

Gleichgültigkeit ist die Rache, die die Welt an der Mittelmäßigkeit nimmt.

Es ist ein Verhängnis mit allen guten Vorsätzen.
Sie werden unweigerlich zu früh gefasst.

Wer treu ist, kennt nur die triviale Seite der Liebe;
der Treulose ist es, der die Liebestragödien kennenlernt.

Wenn man verliebt ist, betrügt man zu Anfang immer sich selbst
und am Ende stets die anderen.

Und was die Heirat angeht, die wäre natürlich töricht;
es gibt andere, interessantere Bande zwischen Mann und Frau.

Ich ziehe Frauen mit einer Vergangenheit vor.
Man kann sich mit ihnen so verdammt gut unterhalten.

Alle Frauen werden wie ihre Mutter.
Das ist ihre Tragö­die.
Kein Mann wird es.
Das ist seine.

Wenn Leute mit mir übereinstimmen,
habe ich immer das Gefühl, ich muss mich irren.

Schön und schlecht, das klingt so ähnlich und ist oft dasselbe.

Niemand begeht jemals ein Verbrechen, ohne eine Dummheit zu begehen.

Es gibt nur eine Gesellschaftsklasse, die mehr an das Geld denkt als die Reichen,
und das sind die Armen.

Das Kritisieren erfordert unendlich mehr Bildung als das Schaffen.

Bildung ist etwas Wunderbares.
Doch sollte man sich von Zeit zu Zeit daran erinnern,
dass wirklich Wissenswertes nicht gelehrt werden kann.

Musiker sind so absurd unvernünftig.
Immer wollen sie einen gerade in dem Augenblick völlig stumm haben,
wenn man sich danach sehnt, völlig taub zu sein.

Die Leute erheben ihr Geschrei wider den Sünder,
doch ist es nicht der Sünder, sondern der Dummkopf,
der uns zur Schande gereicht.
Es gibt keine andere Sünde als die Dummheit.

Heutzutage kennen die Leute von allem den Preis und von nichts den Wert.

Wenn die Götter uns strafen wollen, erhören sie unsere Gebete.

* – Überschrift von der Redaktion.

Bereits erschienen – Ansichten von Georg Kreisler, Friedrich Nietzsche, Karl Kraus, Wilhelm Busch und George Bernard Shaw.