von Erhard Crome
Ist die Forderung nach Auflösung der NATO eigentlich eine linke Forderung? Sind nur „linke“ Forderungen gut und solche, die von „rechts“ kommen, schlecht? Oder gilt im Angesicht des Atomtodes – um mal ein altes Wort für die Gefahr eines Atomkrieges zu benutzen – nur noch das Kriterium der Vernunft, nicht das der Sitzordnung, wie sie seit der Französischen Revolution gilt?
Paul Craig Roberts stellt in seinem Buch bereits im Vorwort genau diese Forderung: „Die NATO muss aufgelöst werden.“ Ihr ursprünglicher Daseinszweck „existiert nicht mehr. Die NATO hätte zusammen mit der Sowjetunion aufgelöst werden müssen.“
In den USA werden Roberts‘ Kommentare oft von allerlei Trollen attackiert. Auf konservativen Seiten wird er als „Linker“ enttarnt, weil seine Texte auch auf „linken“ Internetseiten zu finden sind; auf linken Internetseiten dagegen wird er als Rechter „demaskiert“, weil er einst für die Reagan-Regierung gearbeitet hat. Roberts (geboren 1939) war stellvertretender Finanzminister, später Berater des Verteidigungs- und des Handelsministeriums. Er war Mitherausgeber des Wall Street Journal, lehrte und forschte an verschiedenen Universitäten der USA, veröffentlichte etliche Bücher. Er kritisiert den Neoliberalismus, aber auch die Außenpolitik der verschiedenen Regierungen der USA und die Politik Israels gegenüber den Palästinensern. Ein Republikaner, der besonders scharf mit der Politik des „War on Terror“ des Präsidenten George W. Bush ins Gericht ging. Mit Blick auf den diesjährigen Präsidenten-Wahlkampf in den USA verdient sein 2015 auf Deutsch erschienenes Buch, in dem er die Außenpolitik der USA seit dem Ende des Kalten Krieges für grundsätzlich verfehlt hält, besondere Aufmerksamkeit.
Seine wichtigste Botschaft ist, dass die Gefahr eines Atomkrieges mit dem Ende der Sowjetunion nicht geringer wurde, sondern sich erhöht hat. Die Ursache liegt in der Außenpolitik der USA, die seit Anfang der 1990er Jahre der „Wolfowitz-Doktrin“ gefolgt ist: erstes Ziel US-amerikanischer Außenpolitik sei es, das Wiederauftreten eines „neuen Rivalen“ für die Weltherrschaft der USA zu verhindern. Das erfordere, jede mögliche „feindliche Macht“ daran zu hindern, eine Region zu dominieren und zu kontrollieren, deren Ressourcen ausreichen würden, eine Weltmacht entstehen zu lassen. Daraus wurde abgeleitet, dass vor allem Russland und China eingedämmt werden müssten.
Diese Leitvorstellung des sogenannten Neokonservatismus wurde von Leuten ersonnen, die in ihrer Jugend oft sozialistischen Zielen der Weltveränderung gefolgt waren. Nun wurde die Weltveränderung in den Dienst der Aufrechterhaltung der globalen Hegemonie der USA – nach dem Kalten Krieg, am „Ende der Geschichte“– gestellt. Sei es in Gestalt von Regime-Change-Kriegen, wie sie die Präsidenten Bill Clinton gegen Jugoslawien, Bush II gegen Afghanistan und Irak und Barack Obama gegen Libyen führten, oder in Gestalt von Farbrevolutionen, insbesondere unter Bush II und Obama zum Regime-Wechsel in der Ukraine. Eine ausufernde Rhetorik von Menschenrechten, Demokratie und Freiheit wurde zur Rechtfertigung von Interventionen, Zwangsmaßnahmen und Kriegen gegen sogenannte Schurkenstaaten gemacht.
Roberts’ Geschichtsbild wird in Deutschland nicht nur Freunde finden, seine Analyse jedoch ist eindeutig: vorrangiges Ziel der Reagan-Regierung war, „den Kalten Krieg und die Gefahr von Atomkriegen zu beenden“. Das war dann geschehen. „Reagan und Gorbatschow hatten den Kalten Krieg beendet und die Gefahr eines atomaren Weltuntergangs gebannt“. Um die Zustimmung der Moskauer Regierung zu einer NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands zu erreichen, hatte Bush I ganz in diesem Sinne „zugesagt, dass es keine Osterweiterung des transatlantischen Bündnisses geben werde“. Diese Zusage wurde gebrochen. „1999 machte Präsident Bill Clinton die Regierung von Präsident George H. W. Bush zum Lügner: Der korrupte Clinton brachte Polen, Ungarn und das neu entstandene Tschechien in die NATO. Auch Präsident George W. Bush ließ seinen Vater und dessen getreuen Außenminister James Baker als Lügner dastehen.“ Er „holte 2004 Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, die Slowakei, Bulgarien und Rumänien in die NATO. Das hoffnungslos korrupte Obama-Regime nahm 2009 noch Albanien und Kroatien auf.“
Hinzu kam, dass Bush II den ABM-Vertrag zur Begrenzung der Raketenabwehrsysteme aufkündigte, veranlasste, Raketenabwehrsysteme an Russlands Grenzen zu stationieren, und über einen „präemptiven“ atomaren Erstschlag schwadronierte. Diese anti-russische Ausrichtung wurde nochmals verstärkt, als „die inkompetente Regierung Obama entschied, die demokratisch gewählte Regierung in der Ukraine zu stürzen und an ihre Stelle eine Marionettenregierung nach dem Willen Washingtons einzusetzen“. Russland hat indessen seine Nuklearstreitmacht verstärkt. China fühlt sich gleichfalls bedroht. So folgert Roberts: „Aber es sind nicht nur Russlands Atomstreitkräfte, die die Narren in Washington wiederbelebt und aktiviert haben, sondern auch Chinas. Vergangenes Jahr beschrieben die Chinesen sehr unverblümt, wie sie die USA mit Nuklearwaffen zerstören könnten. Damit reagierte China auf den verrückten Plan Washingtons, von den Philippinen bis nach Vietnam neue Luftwaffen- und Flottenstützpunkte zu errichten, um den Warenfluss im Südchinesischen Meer besser kontrollieren zu können. Wie schwachsinnig muss die Regierung in Washington sein, um zu glauben, dass China eine derartige Einmischung in seinem Einflussbereich einfach so hinnehmen werde?“
In außenpolitischer Hinsicht sieht Roberts keinen Unterschied zwischen Republikanern und Demokraten. Die Regierung eines demokratischen Landes müsse, um das Vertrauen ihrer Bürger nicht zu verlieren, eine Außenpolitik betreiben, die „im Einklang mit unseren Prinzipien“ stehe „und dem Volk offen vermittelt werden“ könne. „Wer eine geheime Agenda verfolgt, so wie […] die Regierungen Clinton, Bush und Obama, muss mit Geheimniskrämerei und Manipulationen arbeiten und dadurch das Misstrauen der Menschen wecken.“ So sieht Roberts auch Hillary Clinton als Fortsetzerin der Außenpolitik der vergangenen 25 Jahre, als „Präsidentschaftskandidatin der Bankster und Kriegstreiber“, „eine Kriegstreiberin“, die von den rechtsextremen Neokonservativen unterstützt werde. Das gleiche gilt für republikanische Gegenspieler wie John McCain. „Die Verschärfung der gegen Russland gerichteten Rhetorik […] hat die Welt auf die abschüssige Bahn des Untergangs gebracht.“
Die Rolle der Präsidentschaft Bill Clintons in der Geschichte der USA sieht Roberts (ohne es zu sagen) so ähnlich, wie von manchen in Deutschland jene Schröders gesehen wird: Er hat dem Neoliberalismus erst so recht zum Durchbruch verholfen. Das Instrument im Falle der USA waren die Freihandelsabkommen. Sie ermöglichten dem Großkapital, ihre Güterproduktion ins Ausland zu verlagern. Das sparte Lohnkosten in den USA und bescherte den Aktienbesitzern zusätzliche Dividenden. Gut bezahlte Jobs in den USA verschwanden. Das reduzierte zugleich das Steueraufkommen der Städte und Bundesstaaten und schwächte die Rolle der Gewerkschaften. Das wiederum führte dazu, dass die Demokratische Partei nicht mehr von den Gewerkschaften finanziert wurde, sondern auf die „Spenden“ des Großkapitals verwiesen war, wie bis dahin vornehmlich die Republikaner. Diese „Öffnung“ der USA und die imperiale Präsidentschaft mittels Krieg waren zwei Seiten derselben Medaille. Dann haben die Republikaner das Gefängnissystem privatisiert, in dem inzwischen von 2,7 Millionen Kindern mindestens ein Elternteil einsitzt. In den USA ist das Gefängnissystem der führende Niedriglohnsektor mit einem Jahresumsatz von 70 Milliarden US-Dollar.
Wenn es um Alternativen geht, so zielt Roberts zunächst auf eine Gesundung der Wirtschaft, die auf der Rückholung der ausgelagerten Arbeitsplätze und dem Wiedererstarken der Mittelschicht beruht. Die Wiedererlangung von Wohlstand ist wiederum eine Vorbedingung des Friedens. Der wiederum hat die Abschaffung der NATO zur Voraussetzung, was die Einkreisung Russlands beenden und eine Besserung des Verhältnisses zu Moskau ermöglichen würde. Vor allem aber plädiert Roberts für die Entfernung der „neokonservativen Kriegstreiber“ von den Schaltstellen der Macht in Washington. Allerdings zeigt sich der Autor zugleich sehr skeptisch, dass dies realisiert werden könnte.
Paul Craig Roberts: Amerikas Krieg gegen die Welt … und gegen seine eigenen Ideale, Kopp Verlag, Rottenburg 2015, 256 Seiten, 19,95 Euro.
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