19. Jahrgang | Nummer 11 | 23. Mai 2016

Indien im Wandel?

von Edgar Benkwitz

Vor genau zwei Jahren erfolgte in Indien ein grundlegender Wechsel im politischen Herrschaftsgefüge. Die alteingesessene Kongresspartei mit ihrem liberalen und säkularen Gedankengut wurde bei den Parlamentswahlen fast zur Bedeutungslosigkeit degradiert und musste die Regierungsgeschäfte an die hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) abgeben. Premierminister ist seither Narendra Modi, langjähriger Funktionär einer Hindu-Organisation und ehemaliger Chefminister des Bundesstaates Gujarat. Er hat mit seiner Partei noch drei Jahre Amtszeit vor sich, allerorts wird aber schon jetzt die Frage gestellt, wie sich dieser Wechsel auf die indische Gesellschaft auswirkt.
Modi war mit dem Versprechen angetreten, Indien aus Lethargie und Stillstand herauszureißen und auf allen Gebieten voranzubringen. Das wurde von vielen als populistisch abgetan, doch nach zwei Jahren Amtszeit ist auf einigen Gebieten durchaus frischer Wind zu spüren. Die indische Wirtschaft, die drittgrößte Asiens, befindet sich wieder im Aufschwung und versucht, an die enorme Wachstumsphase zu Beginn des Jahrhunderts anzuknüpfen. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs in den beiden Jahren um jeweils 7 Prozent, die Inflationsrate schwächte sich auf unter 5 Prozent ab und die Devisenreserven stehen mit 360 Milliarden US-Dollar auf einem Allzeithoch. Durch eine zielgerichtete Budgetpolitik und strenge Finanzdisziplin konnte der Staat effektiver als früher seine finanzpolitischen Möglichkeiten nutzen. Davon profitierten unter anderem die Landwirtschaft, die zwei Dürreperioden durchlebte, sowie der soziale Sektor.
Um mehr Auslandsinvestitionen und moderne Technologie ins Land zu holen, wurden Regulierungen für einige Wirtschaftsbereiche aufgehoben. Das zahlt sich besonders in der Infrastruktur mit ihrem großen Nachholbedarf aus, wo mit beträchtlicher ausländischer Beteiligung kräftig investiert wird. Hingegen wächst die Industrieproduktion kaum. Vor allem der große staatliche Sektor benötigt einen Modernisierungsschub, auch schreckt nach wie vor die berüchtigte indische Bürokratie potenzielle Investoren ab.
Einer stabilen und nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung stehen aber auch schlichtweg politische Machtfragen im Inneren im Wege. Das zeigt die dringend notwendige Einführung eines landesweiten Mehrwertsteuersystems (und damit die Festigung eines einheitlichen indischen Marktes), von der ein bedeutender Wachstumsschub erwartet wird. Der Regierungspartei gelingt es nicht, die zur Verabschiedung des Gesetzes erforderliche Mehrheit im Oberhaus zu organisieren. Sie überlässt das Heft des Handelns der destruktiv auftretenden Kongresspartei und einigen Regionalparteien. Hier offenbart sich generell eine Schwäche der BJP, der es schwer fällt, aus ihrem hindunationalistischen Schatten zu treten.
Fakt ist, dass in Indien mit einer Milliarde Hindus nahezu jede Organisation auf Traditionen und Lebensweisen des Hinduismus Rücksicht nehmen muss – die aufgeklärten Vertreter der Nehru-Gandhi-Familie und selbst kommunistische Parteiführer taten das. In der BJP, vor allem in deren Unterorganisationen, sind jedoch fundamentalistische und chauvinistische Kräfte am Werk, die den Hinduismus als Kampfideologie gegen andere Religionen, Weltanschauungen und Lebensweisen benutzen. Diese Haltung, die bis in die Regierung ausstrahlt, erschwert das notwendige Zusammengehen mit anderen politischen Strömungen. So sind die zwei Jahre Modi-Regierung auch von einer negativen Bilanz geprägt: von der Zunahme eines gesteuerten Hindunationalismus, der sich in allen Lebensbereichen bemerkbar macht und dem Ansehen des Landes im Ausland abträglich ist. Säkulare und liberale Kräfte, die sich auf große indische Traditionen stützen können, aber auch Vertreter anderer Religionen stellen sich gegen die schleichenden Bestrebungen, Indien langfristig in einen Hindustaat zu verwandeln.
Die Erfolge auf wirtschaftlichem Gebiet sind eng mit den gesteigerten außenpolitischen Aktivitäten Indiens verbunden. Narendra Modi macht kein Hehl aus seinem Ziel, sein Land so schnell wie möglich als anerkannte Großmacht zu etablieren. Der ehemals international unerfahrene und mit westlichen Sanktionen belegte Provinzpolitiker hat heute zu den führenden Politikern dieser Welt gute Kontakte. G-20-Treffen, UN-Vollversammlung, BRICS- und Schanghai-Gruppe sind neben bilateralen Treffen seine Foren, sich für die gewachsenen Ansprüche seines Landes einzusetzen. Beobachter heben hervor, dass sich erstmals seit Jahrzehnten ein Premierminister wieder systematisch um die vernachlässigten Nachbarstaaten kümmert und mit Nahost und Mittelasien neue Regionen für indische Interessen erschlossen werden. Auch die beträchtliche indische Diaspora, vor allem in den USA, Großbritannien, Australien und Kanada, wird von ihm regelmäßig angesprochen und zu Investitionen im Heimatland aufgefordert.
Modi hatte zu Beginn seiner Amtszeit eine „Look East“-Politik verkündet. In der Tat sind die Beziehungen mit Ländern wie Japan, China, Australien und insbesondere Vietnam mit konkreten Inhalten weiterentwickelt worden. Selbst die Mongolei wurde erstmals von einem indischen Premier besucht. Doch der Schwerpunkt der Aktivitäten scheint sich in Richtung Westen zu verlagern. Iran, die Golfstaaten, Saudi Arabien und Israel werden umworben und zeigen ihrerseits großes Interesse an Indien. Das Hauptaugenmerk der Modi-Regierung gilt jedoch den USA. Nicht nur die Anzahl der Staatsbesuche auf höchster Ebene lässt aufhorchen, die bilateralen Beziehungen stoßen auch in neue Bereiche vor. Die USA sagen mittlerweile offen, dass sie in Indien ein Gegengewicht zu China sehen und deshalb die Zusammenarbeit vorantreiben. Indien befürwortet zwar ebenfalls die strategische Zusammenarbeit mit den USA, möchte auf diesem Wege aber vor allem wirtschaftlich und militärisch gestärkt werden. Zudem baut man darauf, die USA zu einer Umkehr in der Pakistan-Politik zu bewegen und Indiens Eigengewicht gegenüber dem großen Rivalen China zu erhöhen. Dass dieses Vorgehen problematisch ist, zeigte eine im April ausgehandelte Vereinbarung zwischen den Verteidigungsministern der USA und Indiens, wonach die US-Streitkräfte das Recht haben, Flugplätze und Häfen in Indien mit weitgehenden Rechten zu benutzen. Dieser Schritt, so meinen Beobachter, stellt nicht nur eine Abkehr von der traditionellen Politik der Nichtpaktgebundenheit dar (dieser Begriff erfreut sich in Indien noch einer großen Wertschätzung), sondern könnte bei internationalen Konflikten unübersehbare Folgen für das Land haben. Doch die indische Diplomatie mit Premier Modi an der Spitze ist selbstbewusster geworden. Nur wer etwas wagt, gewinnt, ist in Neu Delhi mit Blick auf die Widersacher Pakistan und China zu hören.
Erwähnt werden muss, dass ausgerechnet eine nationalistische Regierung die öffentliche Aufmerksamkeit auf bisher vernachlässigte und offiziell totgeschwiegene Themen wie die oft entwürdigende Behandlung der Frauen, Sauberkeit und Ordnung sowie die Schaffung normaler sanitärer Verhältnisse für Millionen von Menschen gelenkt hat. Selbst Premierminister Modi ist sich – im Gegensatz zu seinen Vorgängern – nicht zu schade, diese unhaltbaren Zustände öffentlich zu geißeln. Freilich hemmen Armut und traditionelles Verhalten schnelle Veränderungen, zumal Appelle und Kampagnen ohne landesweite organisatorische Untersetzung ins Leere laufen.
Ohne Zweifel befindet sich Indien in Veränderung, es vollzieht sich jedoch eine sehr widerspruchsvolle Entwicklung. Während Modernisierung, beschleunigtes Wirtschaftswachstum und internationale Aktivitäten insgesamt den nationalen Interessen dienen, gibt ein wuchernder Hindunationalismus Anlass zur Sorge. Wird er nicht in die Schranken gewiesen, nicht zuletzt durch die Regierungspolitik, kann bisher Erreichtes in der „größten Demokratie der Welt“ gefährdet werden.