von Wolfgang Brauer
In Patagonien, genauer in der argentinischen Provinz Chubut, lebt und arbeitet die Journalistin Elida Fernández. Von den Küsten dieser Provinz schiebt sich einem dicken Daumen nicht unähnlich die Halbinsel Valdés in den Ozean. Nach Norden begrenzt sie den Golfo San Matias, gen Süden den Golfo Nuevo, eigentlich eine große Meeresbucht. Fernández bereiste diesen „aus der Zeit gefallenen Ort“, wie sie die Halbinsel nennt und schrieb eine bezaubernde Sammlung kleiner Essays über die Península Valdés und die Menschen, die dort versuchen, dem Meer ihren Unterhalt abzuringen: die pescadores artesanales, die „handwerklichen Fischer“. Die Bezeichnung ist wortwörtlich zu nehmen. Egal, ob es sich um das Sammeln von Muscheln, Erjagen von Tintenfischen oder das Fangen von Fischen selbst handelt – es ist härteste Handarbeit, die hier zu leisten ist. Fernández singt diesen Arbeitern des Meeres eine Hymne, wie sie selten geworden ist. Ab und an ist durchaus ein Hauch Romantisierung zu verspüren. So ist es wohl weniger die Sehnsucht nach unbedingter Freiheit gewesen als vielmehr die Suche nach dem täglich Brot, die die Vorfahren der pescadores an diese Küste trieb und sie veranlasste, sich an einem Ort niederzulassen, an dem es keinerlei natürliches Trinkwasser gibt. Elida Fernández zitiert Charles Darwin: „Der Fluch der Unfruchtbarkeit liegt auf dem Land.“
Eine Ahnung von der Weite, der Härte und zugleich der berührenden Schönheit dieser Landschaft vermitteln die großartigen Fotografien Jutta Riegels. Diese Fotos dokumentieren keine dramatischen Situationen. Sie zeigen die grandiose Schlichtheit dieses Küstenlandes. Sie bilden die Menschen und ihre Behausungen auf eine sehr unspektakuläre, aber liebevolle Weise ab. Auch Riegels Bilder singen das Hohelied menschlicher Arbeit, die sich nicht „in Übereinstimmung“ mit was auch immer bringen muss. Diese hohle Phrase postmodernen europäischen Philosophierens wäre hier vollkommen deplatziert. Meine Leute streben „nach einer besseren Zukunft – / mit Hoffnung und Salz und Stolz darauf, / Fischer zu sein / im Golfo San José“ – schreibt die Fischerin Senovia Herminia Curumil de Mateo, deren Gedicht Elida Fernández in ihr Buch aufgenommen hat.
Nirgendwo habe ich übrigens die Mate-Tee-Zeremonie schöner beschrieben gefunden. Gestaltung und Druck des Bandes sind exzellent. Silke Kleemann gelang eine poetische Übertragung aus dem argentinischen Spanisch.
Elida Fernández / Jutta Riegel: Die Freiheit, das Meer. Über das Karge und das Reiche an einem Rand der Welt, CORSO in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2016, 128 Seiten, 28,00 Euro.
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Im Herbst 1917 bereiste die US-amerikanische Schriftstellerin Edith Wharton Marokko. Ihrem Bericht zu folgen, macht einfach Freude. Er erschien jetzt in der Reihe „Die kühne Reisende“, die Susanne Gretter bei Erdmann herausgibt. Allerdings sollte man Whartons „Kühnheit“ mit einer gewissen Distanz sehen: Sie fuhr auf Einladung der französischen Regierung. Gastgeber war der Generalresident von Französisch-Marokko, Louis-Hubert Lyautey, der fünf Jahre zuvor einen antieuropäischen Aufstand niederschlug und das französische Protektorat errichtete. Edith Wharton und ihr Begleiter wurden in französischen Militärfahrzeugen durch das Land gefahren, wohnten durchaus luxuriös – und hatten dank der guten Drähte zu den französischen Machthabern, Edith Wharton jedenfalls, Zugang selbst in die Harems der marokkanischen Fürsten. Das ermöglichte ihr Einblicke in „all das Schöne und all das Elende“, die anderen Reisenden verwehrt bleiben. Da es sich bei der Autorin um eine hochgebildete, ihren kritischen Blick auch im orientalischen Farben- und Düfterausch nicht verlierende Frau handelte, vermag ihr Buch auch den heutigen Lesern Nachdenkenswertes zu vermitteln.
Natürlich wurde auch Wharton mit einer Kultur konfrontiert, die durch und durch vom Islam geprägt war und nach wie vor ist. Sie lernte Sklaverei und Unterdrückung der Frau kennen. Sie begegnete einem bauliche Gestalt gewordenen, sehr primitivem Antisemitismus. Sie erlebte soziale Gegensätze extremster Natur. Aber entgegen aktueller europäischer mainstream-Debatten nahm sie keine pauschale Schuldzuweisung an die Adresse des Islam vor. Sie drehte den Spieß um – und diese Sichtweise wünsche ich mir in manch heutiger Debatte. Die Autorin sah in den Augen der schwarzen Kindersklavin eines hohen Würdenträgers „das ganze düstere Elend eines Gesellschaftssystems, das dem Islam wie ein Mühlstein am Hals hängt.“ Nicht umgekehrt! Sie spürte auch das Zwiespältige an der Alltagskultur, der sie begegnete: „All die Fäden des hiesigen Lebens, gedreht aus Gier und Lust, Fetischismus, Angst und aus blindem Hass auf den Fremden, flechten sich in den Souks (den Basaren der alten Städte – Anm. W.B.) zu einem dichten Netz, das einen hin und wieder buchstäblich ins Stolpern bringt.“ Man macht es sich zu leicht, wenn man diesen – arabischen! – Fremdenhass lediglich auf die Kolonialismus-Erfahrung – der mit Sicherheit dem Ganzen die Krone aufsetzte – zurückführt. Wenige Jahrzehnte vor Edith Wharton musste sich bereits Edmondo de Amicis mit solchen Beobachtungen auseinandersetzen.
Dieser Tage war der marokkanische Dokumentarfilmer Ali Essafi in Berlin. Beim DAAD präsentierte er unter anderem seinen Film „sheikhates blues“, der berberische Sängerinnen porträtiert, die „sich die Freiheit nehmen, von Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen zu singen“ – und darum zu den größten Außenseitern der marokkanischen Gesellschaft gehören. 100 Jahre vor Essafi studierte Edith Wharton die Situation der marokkanischen Frau: „Und all diese farblosen, ereignislosen Leben (sie meint die „feinen Palastdamen von Fès“ – Anm. W.B.) sind vom Wohlwollen eines fetten Tyrannen abhängig, feist vom guten Leben und der Macht, und daran gewöhnt, ihnen seine Launen aufzuzwingen, seit er als kleiner Bub im kurzen Kittelchen über genau diesen Innenhof rannte.“ Warum die Frauenfeindlichkeit eines Gesellschaftssystems, das dem Islam tatsächlich wie ein Mühlstein am Hals hängt, ein scheinbar nicht zu brechender Teufelskreis ist, kann man bei Edith Wharton nachlesen.
Trotz dieser Düsternisse macht das Buch einfach Lust auf Marokko. So wie Wharton es sah, werden wir das Land nicht mehr erleben können. Vollkommen zu Recht prophezeite sie die Zerstörung des „Zaubers des Orients“ – der in der schönen Übersetzung Ebba D. Drolshagens nacherlebbar ist – durch die Überflutung des modernen Tourismus.
Edith Wharton: In Marokko. Vom Hohen Atlas nach Fès – durch Wüsten, Harems und Paläste, Edition Erdmann, Wiesbaden 2016, 216 Seiten, 20,00 Euro.
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Einen der faszinierendsten wissenschaftlichen Reiseberichte deutscher Forscher legte Sven Ballenthin ebenfalls bei Erdmann vor: Hermann von Schlagintweits (1829-1882) Buch über die mit seinen Brüdern Adolf (1829-1859) und Robert (1833-1885) unternommenen Reisen in Hochasien in den Jahren 1854 bis 1858. Sie unternahmen diese im Auftrage der britischen Ostindien Kompanie und brachten von dort eine solche Fülle wissenschaftlichen Quellenmaterials mit, dass sie dessen vollständige Auswertung selbst nicht mehr erleben konnten. Schon die Vorgeschichte ihrer Expedition ist spannend: Eigentlich wollte Alexander von Humboldt kurze Zeit nach seiner amerikanischen Reise Hochasien von Indien aus erkunden. Die Ostindien Kompanie boykottierte aber alle seine Versuche – wunderbarerweise war er es dann, der den aus Bayern stammenden Brüdern durch Inanspruchnahme der Londoner Beziehungen des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV. den Weg auf den Subkontinent bahnte.
Die drei waren ausgezeichnet vorbereitet: Ihr wissenschaftliches Rüstzeug erwarben sie sich bei der Erkundung der Alpen. Scheinbar nebenher wurden sie dort zu erfahrenen Alpinisten. 1851 wäre ihnen beinahe die Erstbesteigung der Dufourspitze im schweizerischen Monte-Rosa-Massiv gelungen. So konnten Adolf und Robert die Erforschung der Hochpässe des mittleren Himalayas am Kamet bis in eine Höhe von 6.788 Meter treiben. Dieser Höhenrekord wurde dort erst 1931 gebrochen. Die Brüder waren nicht nur als Geologen aufmerksame Beobachter. Am Beispiel der Teepflanzungen in Darjeeling und des Systems der „Protected Hill States“ – der Begriff „Protektorat“ hatte im 19. Jahrhundert noch nicht diesen üblen Beigeschmack, den er im 20. erhalten sollte – begriffen sie rasch die innere Logik englischer Kolonialpolitik. Sie wurden mit den Fehden der Radschas, den Expansionsgelüsten Nepals und der Abschottungspolitik Tibets konfrontiert.
Überhaupt Tibet: „Der Grundbesitz befindet sich in ganz Tibet in den Händen der Klöster; die Bevölkerung ist unwissend […]. Der roheste Aberglaube, ganz schamanenhafte Vorstellungen werden geduldet, denn auf Furcht vor bösen Geistern und auf der Gewalt der Priester, diesen entgegenzutreten, beruht die Autorität der Geistlichkeit.“ Die kriegerischen Auseinandersetzungen kosteten dem zu Fuß die Rückreise vornehmen wollenden Adolf das Leben. Bei Kashgar geriet er in einen turkestanischen Aufstand und wurde als „chinesischer Spion“ enthauptet.
Mich fesselten die schönen Beschreibungen der Berge, Täler und Hochebenen des Daches der Welt. Schlagintweit erweist sich auch als Schriftsteller der Humboldtschen Nachfolge würdig. Die Ausgabe ist von Matthias Weber auf behutsame Weise für den Nichtfachmann gut lesbar gekürzt worden. Eine gute Karte sei bei der Lektüre empfohlen.
Hermann von Schlagintweit: Reisen in Hochasien. 1854 – 1858, Edition Erdmann, Wiesbaden 2015, 376 Seiten, 24,00 Euro.
Schlagwörter: Edith Wharton, Elida Fernández, Halbinsel Valdés, Hermann von Schlagintweit, Himalaya, Hochasien, Islam, Jutta Riegel, Marokko, Patagonien, Reisen, Wolfgang Brauer