von Holger Politt, Warschau
Aleksander Kwaśniewski hatte gemahnt: Er wolle keine Zeiten mehr erleben, in denen ein einzelner Mann mit seinem Telefon über fast alles entscheiden könne. Das war im Januar 1990, soeben war ein langes Kapitel in der politischen Geschichte Polens beendet worden, denn die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei hatte sich aufgelöst. Im Sommer vorigen Jahres gab Kwaśniewski dem frischgebackenen Präsidenten Andrzej Duda den guten Rat, auf seinem Apparat die Telefonnummer des PiS-Parteivorsitzenden zu löschen.
Selbstredend ist Jarosław Kaczyński kein Wiedergänger Władysław Gomułkas, es wäre vermessen, solches zu behaupten. Überhaupt ist er alles andere als ein neuer Erster Sekretär, denn das hat der wackere Streiter für Recht und Gerechtigkeit gar nicht nötig, ist er doch auch ohne die führende Partei gewieft genug. Allerdings hält er die Machtfäden fest in den Händen, lässt da nicht locker. So muss er sich auch gefallen lassen, dass die Straße momentan seinen politischen Gegnern gehört, da kann er im Augenblick nicht mithalten und auch nicht viel ausrichten. Als Anfang Mai knapp eine Viertelmillion Bürger aus vielen Teilen des Landes durch Warschaus Straßen zog, versuchte es der Parteivorsitzende zur selben Zeit mit einem Internetchat, als wollte er den Stier bei den Hörnern packen. Das ging zwar gründlich schief, denn wer wollte im Lande hören, dass auf dem heimischen Herd Bigos die Lieblingsspeise und am Fernsehgerät Rodeo der Lieblingssport sei, doch immerhin schaffte es Kaczyński mit diesem erstmaligen Netzauftritt, gleich in die Spitzenmeldungen des Tages vorzustoßen.
Berichtet wurde im PiS-kontrollierten öffentlich-rechtlichen Fernsehen auch über die nicht alltägliche Demonstration, wobei den Organisatoren im besten Propagandastil wie einst bei der Aktuellen Kamera ein falsches Spiel vorgehalten wurde. Sie hätten der Menge suggeriert, es bestünde die Gefahr eines Austritts aus der EU, weshalb nun so viel an blauem EU-Tuch demonstrativ hochgehalten worden sei. Nichts von dem gestreuten Gerücht sei wahr, im Gegenteil, erst die PiS-Regierung sorge jetzt dafür, dass Polen sich nicht allzu billig an die dort in Brüssel verkaufe. Die Tatsache der gewaltigen Demonstration aber wurde herausgestellt als bester Beweis, wie gut es um Demokratie und Freiheit an der Weichsel bestellt sei.
Vom Chat zurückgekehrt in die laufende Politik, ließ Parteivorsitzender Kaczyński die Ministerpräsidentin im Parlament vormachen, wie ernsthaft die Abrechnung mit den Regierungsvorgängern betrieben werde. Fast hatte es den Anschein, als spule Beata Szydło ein penibel einstudiertes Programm ab. Auf der druckfrischen Umschlagseite der regierungsfreundlichsten Postille waren direktemang Donald Tusk, Ewa Kopacz und einige frühere Minister zu sehen, wie sie mit geschwärzten Augenbalken zwischen Polizisten saßen, die sie auf der Anklagebank bewachten: Da – so die Botschaft – helfen auch keine geschwenkten EU-Fahnen mehr, denn Recht und Gerechtigkeit setzen sich durch.
Doch wie in der Volksrepublik gibt es nun so etwas wie eine informelle Opposition, denn die Gegenseite hat sich aufgestellt als Komitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD), was im Namen ein wenig klingt wie das berühmte Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR), das sich ab 1976 schnell zur Keimzelle für der „Solidarność“-Bewegung entwickelt hatte. Aus KOD wird keine neue „Solidarność“ entstehen, das scheint ausgeschlossen, denn KOD ist keine Keimzelle und das Land hat freie Gewerkschaften genug. Aber zum ersten Mal seit 1989/90 hat es nun einer geschafft, die Dinge so zuzuspitzen, dass die anderen sich über Parteigrenzen und alle anderen triftigen politischen Unterschiede hinweg zusammenschließen. In einer ersten Umfrage, die Gazeta Wyborcza gleich nach der großen Demonstration durchführen ließ, hatte KOD tatsächlich die Nase vorn, erst mit erkennbarem Abstand folgte Kaczyńskis PiS. Zwar beteuert Mateusz Kijowski, der Begründer des neuen Verteidigungskomitees, keinerlei weitergehende politische Absichten zu haben, aber in mancher Nachrichtenredaktion wird er schon das eine oder andere Mal als ein möglicher Kandidat für das Präsidentenamt bei den Wahlen 2020 gehandelt.
Zwei wichtige Aufgaben, so Kijowski, habe KOD im Augenblick zu erfüllen – erstens müssten für das Handeln im öffentlichen Raum wichtige Symbole zurückerobert werden, er nannte als Beispiel Polens Nationalflagge, und zweitens müsste politische Bildungsarbeit verrichtet werden, um die demokratischen Werte wieder stärker unters Volk zu bringen. Natürlich liegt er nicht ganz falsch, wenn er dabei insbesondere auf die jüngeren Wählerschichten schaut, denn die haben dem Rechtsdrall in Polen 2015 erst den richtigen Schwung gegeben.
Auch wenn derzeit viel altes Kostüm auf Polens politischer Bühne herumgeschleppt wird, so herrschen doch gänzlich andere Bedingungen, die weder einen Ersten Sekretär noch das Arbeiterverteidigungskomitee brauchen. Wie die Verhältnisse sich in den nächsten Monaten entwickeln werden, bleibt abzuwarten. Auch wird sich bald zeigen, in welchem Maße besagter Mann mit dem Telefon sein Pulver bereits verschossen hat.
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