19. Jahrgang | Nummer 11 | 23. Mai 2016

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

Russland ist Europas eigen Fleisch und Blut.
[…] Das sollte ein für alle Mal gelten.

Russland bleiben nur zwei Möglichkeiten:
gleichberechtigte Partnerschaft als Teil
eines einheitlichen Europas oder Rivalität.
Iwan Timofejew

Im vorangegangenen Beitrag dieser thematischen Reihe war bereits kurz auf das Projekt des Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten (RIAC) „Russland und die euro-atlantische Gemeinschaft“ verwiesen worden. Im Folgenden wird auf einige weitere Beiträge zu diesem Projekt eingegangen.

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Der frühere russische Außenminister und jetzige Präsident des RIAC, Igor Iwanow, vertritt in einem „Russland und Europa: neue Spielregeln“ betitelten Essay die Auffassung, dass jene Periode in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, die mit der Perestroika in der Sowjetunion begonnen habe, unwiederbringlich beendet sei. Tiefes Misstrauen zwischen Russland und Europa sei zu einem langfristigen Merkmal der neuen Realität geworden. Die Ursache für diesen Wandel sieht Iwanow in „fundamentalen Unterschieden in unseren Auffassungen über die moderne Welt, über die vorherrschenden Tendenzen der Weltpolitik und darüber, was die Maßstäbe der künftigen Weltordnung sein könnten und sollten“.
Andrej Kortunow, RIAC-Generaldirektor, sekundiert unter der Überschrift „Wie man mit Russland keinesfalls reden sollte“ mit weiteren Ursachen: Hatte Russland irgendeine Hoffnung oder Chance, den beiden zentralen institutionellen Säulen des neuen euro-atlantischen Systems beizutreten – der Nato und der Europäischen Union? Theoretisch bestand diese Möglichkeit für Moskau, aber wegen einer Reihe von […] Hindernissen (nicht nur in Russland, sondern auf beiden Seiten) wurde diese Möglichkeit nie ernsthaft in Erwägung gezogen.“ Aus Moskauer Sicht sei Russland dazu verurteilt worden, „eine Randmacht sowohl in einem NATO/EU-dominierten Europa als auch in einer NATO/EU-dominierten Welt zu bleiben“ und hätte überdies „akzeptieren müssen, dass es sogar noch weniger Einfluss auf Kernbelange der europäischen Sicherheit und Entwicklung hatte als die kleineren zentraleuropäischen Länder, die der NATO und der EU beigetreten sind“. Keiner der russischen Versuche, dies zu ändern (der Autor nimmt unter anderem Bezug auf den Vorschlag des damaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedjew für einen neuen Europäischen Sicherheitsvertrag von 2008), sei erfolgreich gewesen. Auch die OSZE sei vom Westen quasi links liegen gelassen worden. Und der NATO-Russland-Rat, von Russland „lange Zeit […] als ein höchst wichtiger Koordinierungsmechanismus angesehen, der Moskau so nahe als ohne formalisierte Mitgliedschaft möglich an die NATO rücken könnte“, sei im Westen nie als ein „Instrument der Entscheidungsfindung […] von hoher Bedeutung“ betrachtet worden. Insgesamt habe es der Westen an Respekt gegenüber Russland fehlen lassen beziehungsweise werde die essenzielle Bedeutung „dieser kulturellen Norm im Westen nicht immer voll anerkannt“. Im Unterschied etwa zu China: „Peking hat niemals gezögert, noch einen Schritt weiter zu gehen, um Moskau seinen Respekt zu erweisen. […] Vor allem hat China nie Russlands führende Position infrage gestellt, wenn es um die Sicherheitsbelange der Region geht. Im Ergebnis […] war Peking erfolgreich, während Brüssel scheiterte.“
Vor diesem Gesamthintergrund sieht Igor Iwanow auf lange Sicht keine Erfolgsaussichten mehr für „weitgesteckte Pläne zum Aufbau eines einheitlichen Europas – zur Errichtung eines umfassenden Systems der europäischen Sicherheit und Zusammenarbeit, neuer Strukturen und Institutionen“. In einem weiteren Beitrag, „Russland, die Ukraine und die Zukunft Europas“ machte Iwanow deutlich, in welchen zeitlichen Dimensionen er Chancen vertan sieht – „möglicherweise für Jahrzehnte“.
Die nicht zuletzt daraus resultierende eurasische Schwerpunktsetzung in der Außen-, Sicherheits- und Außenwirtschaftspolitik des Kremls umreißt Iwanow mit einem scharf konturierten Bild: „In der heraufziehenden neuen geopolitischen Realität ist Russland nicht länger die östliche Flanke des gescheiterten einheitlichen Europas, es wird vielmehr die Westflanke des kommenden einheitlichen eurasischen Raumes werden.“
Darüber hinaus ist Iwanow schwerlich zu widersprechen, wenn er meint, dass Russland und der Westen in eine neue Phase des Wettrüstens eingetreten seien, mit Hauptschauplatz Europa. „Die Ereignisse nehmen einen ähnlichen Verlauf wie in der Raketenkrise Mitte der 80er Jahre.“ Daher sei es die vorrangige Aufgabe, „einer Eskalation der militärischen Spannungen entgegenzuwirken, den Dialog über Sicherheitsfragen wiederherzustellen, die militärischen Kontakte auszuweiten, Informationen über Verteidigungspläne auszutauschen, Militärdoktrinen zu vergleichen et cetera“. ´Des Weiteren dürften die ernsten Sicherheitsherausforderungen nicht vergessen werden, vor die sich Russland und Europa gleichermaßen gestellt sähen – „internationaler Terrorismus, politischer Extremismus, Cyberkriminalität und die Gefahr technologisch bedingter Katastrophen“.
Was die Ukraine-Krise anbelangt, steht für Iwanow außer Zweifel, dass sie kaum den bekannten Verlauf genommen hätte, wenn zwischen Russland und dem Westen „gegenseitiges Vertrauen bestanden hätte“. Auch sein generelles Statement zu dieser Krise ist eindeutig: „Vor allem haben weder Russland noch Europa irgendetwas zu gewinnen, wenn die Ukraine zu einem ‚gescheiterten Staat‘ im Zentrum des europäischen Kontinents wird. Im Gegenteil – eine solche Entwicklung würde eine ganze Reihe fundamentaler Bedrohungen und Herausforderungen für jedermann in Europa schaffen, von den zahllosen Tragödien und Leiden des ukrainischen Volkes ganz abgesehen.“ Nur gemeinsam von Russland, den großen europäischen Ländern und den USA sei der „derzeitige unglückliche Trend eines politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verfalls der Ukraine umzukehren“.

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Eines der Hauptrisiken im Kontext der neuen Konfrontation zwischen dem Westen und Russland besteht in der Möglichkeit militärischer Zwischenfälle mit ungewollter Eskalation bis zu einem möglichen Atomkrieg. Damit hat sich Pjotr Topychkanow in einem Beitrag unter der Überschrift „Warnung vor der nuklearen Gefahr“ befasst. Der Autor ist Mitarbeiter im Nichtweiterverbreitungsprogramm des Moskauer Carnegie Centers.
Mit Blick auf den Abschuss einer russischen Su-24 durch die türkische Luftwaffe am 24. November 2015 verweist der Autor einerseits auf das dabei deutlich gewordene Interesse beider Seiten, Moskaus wie der USA und der NATO, die Nerven zu behalten und eine Eskalationsspirale vermeiden. Aber zutreffend warnt er zugleich, es könne „nicht mit Sicherheit gesagt werden“, dass dies im Wiederholungsfalle ebenfalls gelänge.
Gründe dafür finden sich auch in einem Beitrag von Iwan Timofejew, Programmdirektor beim RIAC: „Russland und der Westen: Rückblick auf den Kalten Krieg“. Im Vergleich zur Systemkonfrontation sei die „aktuelle Situation […] viel gefährlicher […]. Einerseits sind wir (sowohl Russland als auch der Westen – W.S.) zu einer offenen Abschreckungspolitik zurückgekehrt. Andererseits besteht kein Einvernehmen über die neuen […] Spielregeln, während die Mechanismen aus der Zeit des Kalten Krieges gerade zerstört werden oder bereits zerstört worden sind.“ Mögliche Therapiemittel sieht Timofejew ähnlich wie Iwanow: Viele Veteranen des Kalten Krieges seien sich darin „einig, dass Staaten zum Mittel des Krieges greifen, weil sie die Absichten der Gegenseite missverstehen. Es ist von grundsätzlicher Bedeutung, Kommunikation und Dialog trotz ernster Gegensätze aufrechtzuerhalten. […] Jede Interaktion, die das Niveau der Ungewissheit reduziert, senkt das Risiko ungewollter Eskalation.“
Was einen möglichen vorsätzlichen Einsatz von Kernwaffen in einer konventionellen militärischen Auseinandersetzung mit dem Nordatlantikpakt angeht, so wird in NATO-Kreisen die russische Militärdoktrin so interpretiert, dass Russland taktische Kernwaffen während eines solchen Konflikts an seinen Landesgrenzen einsetzen könnte, um diesen (im Falle einer drohenden Niederlage) zu „deeskalieren“. Russland wird quasi die Auffassung unterstellt, dass ein Kernwaffenersteinsatz „demonstrativ“ sein könnte und nicht automatisch zu katastrophalen Konsequenzen führen müsste. Dazu Topychkanow: „Russischen Experten zufolge ist dieses Konzept nicht Bestandteil der offiziellen Militärdoktrin.“
Das mag so sein, aber dann wäre die offizielle russische Militärdoktrin zumindest in der Frage eines nuklearen Ersteinsatzes im Rahmen der Landesverteidigung missverständlich. Denn solange die betreffende Passage in der Doktrin so abgefasst ist, wie das an anderer Stelle in diesem Magazin schon kritisch angemerkt wurde, liefert sie den Nährboden für eine Interpretation wie die obige. Ein Experte wie Timofejew räumt im Übrigen unumwunden ein: „Die Rolle der Kernwaffen ist für Russland wegen des Verlustes seiner früheren Stellung bei konventionellen Streitkräften […] steil angewachsen.“
Im Rückblick auf den Kalten Krieg hält Timofejew aber zugleich fest: Damals hätten „beide Lager klar verstanden, das die Grenze zwischen einem begrenzten und einem allgemeinen Nuklearkonflikt hoch illusionär war. Es wäre unmöglich gewesen, die Überschreitung dieser Grenze zu einem kritischen Zeitpunkt zu vermeiden. Deshalb ist selbst das Risiko nur eines einzigen Kernwaffeneinsatzes unakzeptabel.“