19. Jahrgang | Nummer 11 | 23. Mai 2016

Der Erste Weltkrieg auf Rügen

von Dieter Naumann

Eine im November 1916 abgeschickte, mit kyrillischen Buchstaben für in russischer Kriegsgefangenschaft befindliche Personen vorgedruckte Karte war der Anlass, die Folgen des Ersten Weltkriegs für Rügen zu untersuchen: Georg S. teilte seinen Eltern in Sassnitz mit, nunmehr in Perm, Ural, Lager Werchnatusk, zur Waldarbeit eingesetzt zu sein. „Sonst geht es mir noch immer gut. Schreibt bitte recht oft, denn ich habe lange keine Nachricht bekommen.“
Noch bevor der Krieg überhaupt begann, waren auf Rügen seine Vorboten zu spüren. Das Rügensche Kreis- und Anzeigeblatt berichtete am 15. Juli 1909 über eine Anfrage der Provinzialinspektion des Roten Kreuzes an den Verband deutscher Ostseebäder, ob diese bereit wären, „im Kriegsfalle möglichst viele Lagerstellen für genesende Krieger bereit zu halten und im Frieden entsprechende Verträge abzuschließen“. 1913 „gestellten“ sich nach einem Bericht des gleichen Blatts vom 15. März 1913 vor der Königlichen Ersatzkommission des Kreises Rügen in Bergen aus den 33 Kirchspielen 718 Militärpflichtige zur Musterung, von denen 375 für tauglich befunden wurden.
Für die Badeorte blieb zunächst alles beim Alten, die Besuchszahlen stiegen von Jahr zu Jahr und erreichten noch im Juli 1914 einen neuen Höhepunkt. Mit der Mobilmachung am 1. August 1914 änderte sich das schlagartig. Arthur Schusters „Führer durch die Insel Rügen“ resümierte in seiner Ausgabe von 1929 – 1930: „Innerhalb weniger Tage waren die Gaststätten verödet, verstummte die Musik, die Kursäle, in denen die letzten Tage des Juli die Wogen der Begeisterung hochstiegen und patriotische Lieder gespielt und gesungen werden mussten, sie standen einsam und leer. Über 50.000 Menschen hatten sich in wenigen Tagen nach allen Teilen des deutschen Reiches zerstreut.“
Es setzt eine regelrechte Hysterie ein: Küstenabschnitte wurden mit Landsturmbataillonen, Hilfspolizisten und Küstenwachen besetzt; von der über 1.000 Meter langen Seebrücke am Göhrener Südstrand trug man einige Brückenjoche ab, weil man feindliche Anlandungen befürchtete; ausländische Badegäste reisten Hals über Kopf ab; in jedem, der eine fremde Sprache sprach oder einen fremdartigen Eindruck machte, wurde ein Spion vermutet. Vor allem französische, russische und englische Staatsbürger wurden festgesetzt, die arbeitsfähigen und wehrfähigen zu deutschen Zivilgefangenen gemacht, ältere Personen, Frauen und Kinder wurden abgeschoben. „Natürlich“ konnte die Insel auch nicht mehr ohne weiteres betreten werden: Fräulein Lina Wegener aus Stade, Angehörige einer Oberpostdirektion, brauchte einen mit Passbild und Personenbeschreibung versehenen Ausweis im A-4-Format, um sich vom 18. August bis 30. September 1918 „in Sellin und den übrigen Badeorten der Insel Rügen“ aufhalten zu können.
Gleich zu Kriegsbeginn hoben viele Rüganer ihre Guthaben bei der Bergener Sparkasse ab; auch die ins Feld ziehenden Soldaten glaubten, damit ihre Familien abzusichern. Schließlich würde der Krieg nur kurz dauern und das Geld zur Überbrückung ausreichen. Bald traute man den Reichsbanknoten und neu eingeführten Darlehnskassenscheinen nicht mehr, die Kaufleute nahmen nur noch Hartgeld entgegen, trieben die Preise hoch, lieferten nicht mehr auf Rechnung. Beschwichtigende Artikel über die vermeintliche Sicherheit des Geldes auf der Bank oder die Drohung, Geschäfte und Hotels polizeilich zu schließen, wenn sie das Papiergeld nicht annahmen oder die Preise unverhältnismäßig erhöhten, verfehlten weitgehend ihre Wirkung. Um die kaum ausreichenden staatlichen Unterstützungsleistungen („Reichsfamilienunterstützung“) erhöhen zu können und den steigenden Lebenshaltungskosten wenigstens etwas entsprechen zu können, mussten die Städte und Landkreise Rügens bald Kredite aufnehmen.
Die Rüganer zeichneten in der Hoffnung auf ein erfolgreiches Kriegsende eifrig Kriegsanleihen. Neben Geldspenden wurden Sachspenden, beispielsweise Eier und Getreide, Bettzeug, Leibwäsche, Sammlungen verschiedener Rohstoffe, Herstellung von Wollsachen (darunter Pulswärmer für die Soldaten) und ähnliches initiiert, Orgelpfeifen und Kirchenglocken wurden beschlagnahmt. Kinder sammelten Eicheln, Laub, Brennnesseln, Alteisen und andere „kriegswichtige“ Erzeugnisse. Tümmler und Seehunde wurden für die Öl- und Fettproduktion fast ausgerottet. Einige Kinder blieben der Schule fern, weil sie zu Hause die Männer „ersetzen“ mussten oder die Schulräume nicht geheizt werden konnten. Gottesdienste fielen aus, weil es den Kirchen an Kohle fehlte.
Allein zwischen August 1914 und Mai 1915 fielen an den Fronten 356 Rüganer. Bei einigen Pfarrern, die die Gefallenen in den Memorabilienbüchern vermerkten, war bald ein Wandel von der ersten Kriegsbegeisterung zur Ernüchterung zu spüren. Den „Kriegerfrauen“, die sich mit Ämtern herumschlagen und bei Arbeitgebern und in der Familie durchsetzen mussten, sollte ein 1916 von P. Riedel bei Schwetschke & Sohn in Berlin herausgegebener „Ratgeber für die deutsche Kriegerfrau“ helfen: „Was muß ich tun wenn mein Mann eingezogen, wenn mein Mann verwundet, wenn mein Mann in Gefangenschaft geraten, wenn mein Mann gefallen ist“, heißt es auf dem Titelblatt.
Die „Königslinie“ genannte Eisenbahnfährverbindung zwischen Sassnitz und Trelleborg diente zeitweise zum Austausch schwerstverwundeter Kriegsgefangener. Am 10. August 1915 trafen die ersten russischen Austauschverwundeten in Sassnitz ein, wo sie an das neutrale Königreich Schweden übergeben werden sollten. „Auf offene Wagen gebettet, wurden sie in 10 Hotels gefahren und bis zur Ankunft des Schiffes betreut. Die Sassnitzer betrachteten stumm das grauenhafte Bild, und Gedanken an die eigenen Söhne und Väter an der Front drängten sich auf“, schrieb eine Zeitung. „Unsere Kaiserin“ Auguste Viktoria nahm in Sassnitz an einem Verwundetenaustausch teil. Max Koch zitiert in seinem 1934 erschienenen Buch „Zur Geschichte von Sassnitz“ den Bericht des Sassnitzer Redakteurs Wilhelm Durschnabel: „Jedes Schiff brachte ungefähr 200 Verwundete mit … Die Kaiserin gab jedem die Hand und einen kleinen, an einer Ansichtskarte befestigten Blumenstrauß mit den Worten: ,Willkommen in der Heimat!‘ Und so ging es weiter, zwei volle Stunden hindurch, ohne dass die hohe Frau von dem Stuhl, den man neben sie gestellt hatte, auch nur einmal Gebrauch machte. Völlig erschöpft, in Tränen gebadet, wurde sie von ihren Kammerfrauen schwankend zum Zuge zurückgeführt, der gleich darauf wieder die Heimreise antrat.“ Ob sich die Kaiserin in diesem Moment wohl daran erinnerte, dass sie am 6. August 1914 „die deutschen Frauen und Jungfrauen und alle, denen es nicht vergönnt ist, für die geliebte Heimat zu kämpfen“, aufgerufen hatte, nach Kräften dazu beizutragen, den Gatten, Söhnen und Brüdern, die angeblich freudig zu den Fahnen eilten, „den Kampf leicht zu machen“?
Die deutschen Militärstrategen unternahmen alles, um die sich bald abzeichnende Niederlage abzuwenden: Im April 1917 diente das schwedische Fährschiff „Drottning Victoria“ dazu, Lenin, seine Frau Nadeshda Krupskaja sowie 28 Kampfgefährten, darunter angeblich Lenins Geliebte und spätere Frauenrechtlerin Inès Armand, in einem Eisenbahnwaggon aus der Schweiz über Schweden und Finnland nach Petrograd zu transportieren. Die Idee soll von Ludendorff im kaiserlichen Generalstab stammen, der das drohende Kriegsende voraussah und auf einen durch die Bolschewiki erzwungenen Waffenstillstand an der Ostfront hinarbeitete. Ein baugleiches Exemplar des Schnellzugwagens war von 1977 bis zur Wende auf dem Bahnhofsvorplatz von Sassnitz als Lenin-Gedenkstätte aufgestellt und mehr oder minder freiwilliger Anlaufpunkt zahlreicher Schulklassen und Kollektive. Inzwischen steht der Wagen am restaurierten Kaiserbahnhof in Wildpark bei Potsdam.
1918 werden auf Rügen zwar auch Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte gebildet, die den Landrat Freiherr von Maltzahn und seinen Stellvertreter von Zitzewitz absetzen wollten. Der aber konnte wenige Stunden später verkünden: „Die Zuständigkeit ist wieder hergestellt! Ich stehe auf dem Boden der Regierung!“
Zu den unmittelbaren Folgen des Krieges noch einmal der Reiseführer von Arthur Schuster: „Die Jahre 1915 und 1916 brachten nur wenige Gäste, die Betriebe konnten kaum die Unkosten decken. Erst 1917 und namentlich 1918 erhöhte sich die Zahl der Badegäste, namentlich Kriegsbeschädigter, so dass wieder einigermaßen Einnahmen kamen. So zeigten sich in wirtschaftlicher Beziehung direkt katastrophale Wirkungen sowohl für die überaus belasteten Gemeinden wie die Einzelbesitzer der Hotels und Villen. Ein großer Prozentsatz war genötigt, den Besitz zu verkaufen, so dass in fast allen Orten die früheren Besucher Rügens neue Männer und neue Namen finden werden.“
Heute erinnern vor allem Tafeln und Memorabilienbücher in den Kirchen mit den Namen der Gefallenen und die meist aus Findlingen bestehenden Gedenksteine auf den Kirchhöfen und Dorfplätzen an den Ersten Weltkrieg auf Rügen.