19. Jahrgang | Nummer 9 | 25. April 2016

Wirtschaftswachstum – marxistisch interpretiert

von Ulrich Busch

Das Wirtschaftswachstum gehört seit langem zu den umstrittensten Themen in der Politik. Während die einen es für unverzichtbar halten und jedes zusätzliche Prozent Wertschöpfung euphorisch feiern, sehen andere hierin die Quelle ökologischer Missstände und fordern deshalb den Rückbau von Produktionskapazitäten und ein Schrumpfen der Wirtschaft. Aber nicht nur der Umfang und die Dynamik der Produktion werden kontrovers diskutiert, auch die Messung des Wirtschaftswachstums, seine statistische Erfassung und Bedeutung für den Volkswohlstand sind strittige Themen. Eine eigens dafür von 2011 bis 2013 eingesetzte Enquȇte-Kommission hat es nicht vermocht, hier einen Konsens herbeizuführen. Ganz im Gegenteil: Man ging im Streit auseinander. Während sich fast alle Ökonomen weiterhin für Wirtschaftswachstum aussprachen, allerdings in veränderter Struktur und Qualität, lehnten die zumeist aus anderen Disziplinen kommenden Wachstumsgegner jegliche Fortsetzung ökonomischer Expansion vehement ab. Diese auffällige Differenz in den Auffassungen lässt nicht nur auf inhaltliche Meinungsverschiedenheiten schließen, sondern auch auf eine unterschiedliche Problemerfassung, verschiedene Begrifflichkeiten und interdisziplinäre Missverständnisse.
Jürgen Leibiger, Autor der vorliegenden Broschüre „Basiswissen: Wirtschaftswachstum“, vermeidet es, in diesem Streit vordergründig Position zu beziehen. Vielmehr versucht er auf andere Weise, über wirtschaftshistorische und -theoretische Analysen, etwas Klarheit in die fest gefahrene Debatte zu bringen. Dabei verfährt er strikt in Marxscher Diktion und unter Verwendung marxistischer Termini, Denkmuster und Restriktionen. Dies hat gegenüber der methodologischen Buntheit, welche die Wachstumsdebatte sonst auszeichnet, unbestreitbar Vorteile, aber auch einige Nachteile. Als Vorteil erweist sich zum Beispiel die so erreichte Stringenz der Argumentation und die Klarheit der Sprache, vor allem für diejenigen, die das ökonomische Werk von Karl Marx gründlich studiert haben und mit dem marxistischen Vokabular umzugehen verstehen. Für die anderen könnte es mitunter kompliziert werden, den Argumenten zu folgen. Damit schränkt sich der Kreis der Rezipienten deutlich ein, schätzungsweise auf vier bis fünf Prozent der an dem Thema Interessierten. Die anderen 95 Prozent, darunter so ziemlich alle Studenten ökonomischer Fachrichtungen, werden nur schwer einen Zugang zu diesem Buch finden. Aber das ist nicht das einzige Handikap. Schwerer noch wiegt, dass Marx, gemäß dem Entwicklungsstand des 19. Jahrhunderts, in der Hauptsache die Produktion materieller Güter behandelt hat. Mithin konnte er auch die Dynamik der Wirtschaft, deren Wachstum, nur als Expansion der materiellen Produktion begreifen. Diese Restriktion aber erweist sich heute als unzutreffend und ein Bestehen darauf würde zu groben Fehlern führen, da 75 bis 80 Prozent der Produktion inzwischen immaterielle Dienstleistungen betreffen – Güter also, die Marx in seiner Analyse vernachlässigt hat, die heute aber Struktur und Dynamik der Wirtschaft bestimmen. Dem Autor ist diese Schwierigkeit bewusst, sein Festhalten an der Marxschen Theorie erlaubt es ihm aber nicht, widerspruchsfrei damit umzugehen. So richtig es ist, das Wirtschaftswachstum nicht losgelöst von der Reproduktion des Kapitals zu betrachten, sondern immer nur als Moment seiner Akkumulation und einen gegenüber der Kapitalverwertung nachgeordneten Prozess, so wenig überzeugt es doch, wenn die Produktion als industrielle Gütererzeugung verstanden wird und die Erbringung von Dienstleistungen demgegenüber unterbelichtet bleibt.
Diese Problematik findet bei der Behandlung des Bruttoinlandsprodukts (BIP), als dem in Preisen ausgedrückten Wertvolumen der Güterproduktion eines Jahres, ihre Fortsetzung. Der Autor interpretiert das sich im Zuwachs des BIP manifestierende Wirtschaftswachstum richtig als eine Zunahme der Wertschöpfung, ausgedrückt in Preisen, und grenzt sich damit von all jenen ab, die hierin eine Zunahme der Gütermenge vermuten. Anschließend versucht er, diesen Prozess als nominale und reale Veränderung darzustellen. Aber auch das „reale“ BIP zu konstanten Preisen ist keine stoffliche, sondern eine monetäre Kategorie! Auf die teilweise irreführende Terminologie in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung hätte er deutlicher hinweisen können. Auch findet der sich im Zeitverlauf durch den Rückgang des Anteils der industriellen Produktion und die Zunahme des Anteils der Dienstleistungen am Gesamtprodukt bestimmte Strukturwandel zu wenig Beachtung. Hieraus aber erklärt sich ganz wesentlich der Optimismus der Wachstumsbefürworter, künftig mit weniger Ressourcen und geringeren externen Effekten ein größeres BIP erzeugen zu können. Hinzu kommen die Möglichkeiten der Erhöhung der Ressourceneffizienz, geschlossener Stoffkreisläufe, ressourcensparender Produktionsverfahren, veränderter Lebensstile und Konsumgewohnheiten und so weiter, worauf in dem Buch konkret und ausführlich eingegangen wird. In Auseinandersetzung mit vereinfachten Sichtweisen, wie sie sich mitunter bei Befürwortern des „De-Growth-Konzepts“, militanten Wachstumsgegnern und romantischen Exponenten einer auf wirtschaftlicher Schrumpfung basierenden „Post-Wachstumsgesellschaft“ finden, verweist Leibiger darauf, dass nicht das Wirtschaftswachstum schlechthin „das Problem“ sei, sondern seine „kapitaldominierte gesellschaftliche Form“ und die damit verbundenen zahllosen Folgen und Begleiterscheinungen für Mensch und Natur. Eine Gegnerschaft aber, die sich nicht um Fakten schert, sondern stattdessen Glaubensbekenntnisse ins Feld führt, lässt sich mit wissenschaftlichen Mitteln nicht widerlegen. Sie ist auch nicht für eine differenzierte Betrachtung der Wachstumsproblematik, wie sie vom Autor gefordert wird, zu haben, weshalb der fruchtlose Streit andauert. Trotz dieser Schwierigkeiten erweist sich der Auseinandersetzungsteil als der argumentativ stärkste Abschnitt des Buches.
Zuletzt scheint es dem Autor doch noch aufgegangen zu sein, dass eine sich weitestgehend nur an Marx orientierende Behandlung eines so aktuellen Themas, wie das Wirtschaftswachstum eines ist, nicht hinreicht. Er hat deshalb seinem Text noch ein Kapitel angehängt, welches einen informativen Überblick über die „Geschichte der Wachstumstheorien“ bietet. Indem er in diesem Kapitel auch „bürgerliche Theorien“ behandelt, versucht er eine „Brücke“ zum gängigen Diskurs zu schlagen – oder wenigstens diesbezüglich einen Brückenkopf zu errichten. Dies soll positiv, als Versuch, die marxistische Theorie in eine pluralistische Ökonomie einzubringen, gewertet werden.

Jürgen Leibiger: Wirtschaftswachstum. Mechanismen, Widersprüche und Grenzen, PapyRossa Verlag, Köln 2016, 138 Seiten, 9,90 Euro.