von Gabriele Muthesius
„Daß dem Krieg im Atomzeitalter die Legitimation abgesprochen wird, ist nicht ganz unbegründet. Der Grund ist die Furcht vor der Eskalation. Die Schwelle zwischen dem konventionellen und dem mit Kernwaffen geführten Krieg wird leichter überschritten als die Schwelle zwischen Krieg und Frieden, und deshalb wird der atomare Konflikt am sichersten dadurch vermieden, daß man jeden Konflikt vermeidet.“
Leon Wieseltier
„Nuclear War, Nuclear Peace“ (1983)
Beim letzten Mal war der Dritte Weltkrieg am 27. Juli 1985 ausgebrochen. So jedenfalls im 1978 erschienenen Szenario des pensionierten britischen Generals John Hackett. Titel: „The Third World War“. 1982 legte Hackett nach: „The Third World War: The untold story“. Die militärische Konfrontation zwischen den damals von den USA und der Sowjetunion geführten Militärblöcken eskalierte bei Hackett zum begrenzten Atomkrieg und endete mit einem Sieg des Westens.
Bereits die Ausgangskonstellation dessen, was Der Spiegel seinerzeit eine „makabre Warnung“ nannte, deren Autor und seine Mitarbeiter das Magazin als „maßvolle, kühl kalkulierende Militärs“ einstufte, denen Hysterie fernliege, offenbarte das intellektuelle und zeitgeschichtliche Schrittmaß, mit dem die Briten ausgestattet waren: „Unausweichlich war der Weltkrieg geworden, seit die Sowjetunion […] in Jugoslawien eingefallen war […]. Moskau hatte lange nach einer günstigen Gelegenheit gesucht, Jugoslawien nach dem Tode Titos wieder (Hervorhebung – G. M.) in den Warschauer Pakt zu integrieren […].“ Jugoslawien war bekanntlich zu keinem Zeitpunkt Mitglied des östlichen Militärbündnisses gewesen.*
Als 1986 die dritte Auflage der deutschen Taschenbuchausgabe von „The untold story“ erschien, war in der UdSSR Michail Gorbatschow bereits seit einem Jahr Generalsekretär. Zwar hielten die Entscheider im Westen mehrheitlich dessen Abrüstungsinitiativen noch immer für Propaganda, aber das sollte sich mit dem INF-Vertrag über den Abbau nuklearer Mittelstreckenraketen von 1987 und der einschneidenden einseitigen Reduzierung der konventionellen sowjetischen Streitkräfte von 1988 (um 500.000 Mann, 10.000 Panzer, 8.500 Geschütze und 800 Flugzeuge) ändern.
Vom Dritten Weltkrieg war seit Hacketts Elogen praktisch nichts mehr zu hören gewesen, denn dank Gorbatschow war der Kalte Krieg 1989/90 zu den Akten gelegt worden. Der Realsozialismus brach zusammen, der Warschauer Vertrag löste sich auf, die Sowjetunion zerfiel. Damit war der Systemantagonismus, die Basis der jahrzehntelangen Gefahr eines dritten Weltkrieges, endgültig Geschichte.
Allerdings traten EU und NATO einen noch 1990 nicht für möglich gehaltenen Marsch nach Osten an, sammelten frühere sowjetische Verbündete ein und behandelten Russland im Rückblick als Faktor, den man als Partner nicht wirklich ins Kalkül zog, sondern von Fall zu Fall sedierte – etwa mit einem NATO-Russland-Rat, in dem nie Fragen verhandelt wurden, an denen Russland substanziell gelegen gewesen wäre. So konnte 2014 der Ukraine-Konflikt offen ausbrechen und der bereits seit Jahren von interessierten Kräften sukzessive betriebenen Neuverfeindung zwischen dem Westen und Russland einen ordentlichen Schub verpassen. Und – gefühlt – nun endlich ist Russland wieder, was mancher lange vermisst zu haben scheint: „eine langfristige existenzielle Bedrohung“. So der scheidende militärische Oberbefehlshaber Europa der NATO, Luftwaffengeneral Philip Breedlove, im Februar im US-Kongress.
Spätestens jetzt ist es hohe Zeit, sich daran zu erinnern, dass es für die Weltkriege eins und zwei gar keines Systemantagonismus bedurft hatte. Ordentliche Animositäten zwischen kapitalistischen Staaten, hinreichend eindimensionales martialisches Personal an obersten Schaltstellen, sich aufschaukelnde Aufrüstung, wechselweises Säbelrasseln, die Annahme der einen Seite, sie könne die andere auf dem (strategisch) falschen Fuß erwischen, und ein passender oder passend gemachter Kriegsauslöser hatten völlig genügt. Mag jeder Beobachter der aktuellen Entwicklung selbst beurteilen, wie weit die Antipoden auf einem solchen Weg schon wieder vorangekommen sind.
Parallel dazu ist der Dritte Weltkrieg wieder en vogue – nicht in den politischen Führungsetagen, aber bei Think Tanks und in den Medien allemal!
Für den Spiegel war 1962 „das Jahr, in dem die Welt so kurz vor einem Atomkrieg steht wie nie zuvor“. Das Magazin sieht folgende Parallele: „Das Kuba des Jahres 2016 heißt Syrien.“ Julian Hans sekundierte in der Süddeutschen Zeitung: „Keiner weiß, was im syrischen Chaos passieren würde, wenn der nächste russische Jet abgeschossen wird. Oder diesmal ein türkischer.“
Clemens Wergin, hier für die Welt am Sonntag, sieht den möglichen Auslöser eines dritten Weltkriegs ebenfalls in Syrien, aber vorzugsweise – dem traditionellen Denken im Hause Springer entsprechend – direkt bei den Russen: Die könnten „im Nordwesten Aleppos eine amerikanische Spezialeinheit mit einem Luftangriff getötet haben“, woraufhin sich die USA revanchierten. Nach einem Gespräch mit August Cole und Peter Singer (New America Foundation), die für Wergin „zu den kreativsten unter den strategischen Denkern Amerikas“ gehören, weiß der WamS-Autor zugleich, dass für Putin ein Konflikt in Syrien mit der Türkei und den USA gar nicht zu gewinnen sei, weswegen er „auf die Idee kommen [könnte], im Baltikum eine zweite Front zu eröffnen“, weil die Russen „im Baltikum weit besser aufgestellt sind als der Westen“.
Letzteres sieht der US-Think Tank RAND Corporation offenbar ebenfalls so und beurteilt die NATO als völlig chancenlos: Die RAND-Fachleute kamen zu dem Schluss, „dass Russland innerhalb von 36 bis 60 Stunden mit seinen 27 schwerbewaffneten Bataillonen die 12 leichtbewaffneten der Allianz beseitigen würde, um das Baltikum zu besetzen“.
Wladimir Putin selbst, dem Artikel 5 des NATO-Vertrags nicht unbekannt sein und der um das militärische Gesamtkräfteverhältnis seiner Streitkräfte zu denen des Westens wissen dürfte, soll solch ein Szenario allerdings als eines bezeichnet haben, an das nur Idioten glaubten, und nur dann, wenn sie träumten. Eine gewisse Entwarnung kommt diesbezüglich auch von Prof. Dr. Albert A. Stahel, Dozent für Strategische Studien an der Universität Zürich und Leiter des Instituts für Strategische Studien Wädenswil: „Ein russischer Eroberungsfeldzug des Baltikums ist […] zum gegenwärtigen Zeitpunkt immer noch mit dem Risiko der Eskalation bis hin zum Einsatz von Nuklearwaffen verbunden.“
Stahel seinerseits menetekelt anderes: „Deshalb ist es denkbar, dass Putin im Augenblick andere Zielgebiete vorziehen könnte. Aufgrund neuer Manöver sieht es ganz danach aus, als ob der russische Präsident in der nahen Zukunft die Terrorismusbekämpfung in Zentralasien oder gar in Afghanistan plant.“ Darüber, ob sich auch daraus gegebenenfalls ein Weltkrieg drei entwickeln könnte, hüllt sich Wädenswil derzeit noch in Schweigen …
Eine weitere Variante brachte die BBC Anfang des Jahres in einer Sendung mit dem Titel „World War Three: Inside the War Room“ ins Spiel: Da fährt Russland die Masche Ostukraine und inszeniert in Lettland einen prorussischen Aufstand, den es mit den berüchtigten „grünen Männchen“ unterstützt.
Die Beweislage für all diese bellizistischen Imaginationen ist dürftig beziehungsweise von einer Qualität wie im Falle des erwähnten August Cole. Der ist „auch sicher, dass Moskau seine Energieressourcen als Waffe gegen Europa einsetzen würde“. Dass Moskau dies während des gesamten Kalten Krieges aus eigenem Interesse nie auch nur angedeutet hat, dass der russische Staatshaushalt heute in strategischem Maße vom Öl- und Gasexport abhängig ist? Das ficht einen der „kreativsten […] Amerikas“ beim Fabulieren nicht an.
Doch damit ist der Boden jener Tasse, in der all dieser Kaffeesatz derzeit wieder heftig auf- und umgerührt wird, längst nicht erreicht. Es gäbe ja, folgt man Cole & Co., noch schlimmere Szenarien als das einer russischen Invasion im Baltikum. So verweist Cole auf die norwegische TV-Serie „Okkupert“, in der Russland Norwegen und dessen Öl- und Gasvorräte übernimmt (pikanterweise auf Bitten der EU, was zumindest nicht völlig nahtlos in das hier kolorierte Russlandbild passt. Das dürfte wohl der Grund dafür sein, dass Cole diesen Aspekt unter den Tisch fallen lässt.)
Weiterer Horror zeichnet sich für ihn und seinen Kollegen Singer beim Blick in die mittelfristige Zukunft ab. Beide haben, wie Wergin wissen lässt, „vor Kurzem den gerade unter Militärs viel beachteten Roman ‚Ghost Fleet‘ über einen dritten Weltkrieg veröffentlicht“: In 10 bis 15 Jahren greifen Russland und China gemeinsam die USA an – „überraschend in Pearl Harbor auf Hawaii“.
Warum all diese, teils abstrusen Gedankenspiele hier referiert werden? So ihnen und ihresgleichen gestattet wird, unwidersprochen im Raum zu stehen, befördern sie ein innenpolitisches und ein internationales Klima, das die Öffentlichkeit langsam aber sicher daran gewöhnt, einen Waffengang mit Russland (wieder) für denkbar und womöglich für gewinnbar zu halten.
Eine Grunderkenntnis aus den Jahren der Systemauseinandersetzung, die mindestens auf östlicher Seite zu deren Beendigung beigetragen hat, sollte daher ebenfalls rekapituliert werden: In einem Atomkrieg gäbe es keinen Sieger!
Daraus folgte schon damals: Sicherheitsprobleme mit Russland, eingebildete wie tatsächliche, sind nur politisch und gemeinsam mit Moskau zu lösen.
* Wer 1999 völkerrechtswidrig – so Altkanzler Gerhard Schröder – Serbien militärisch überfiel, um Kosovo abzuspalten, ist hinlänglich bekannt. Dass es Washington geostrategisch vor allem darum ging, den in den Jahren zuvor massiv unterstützten Staatszerfall Jugoslawiens abzuschließen und Serbien als traditionellen Verbündeten Russlands auf dem Balkan nachhaltig zu schwächen, hat der ehemalige CIA-Agent Robert Baer zu Protokoll gegeben, der seit 1991 dabei war.
Schlagwörter: Baltikum, Dritter Weltkrieg, Gabriele Muthesius, NATO, Russland, Syrien, Türkei, USA