von Erik Baron
„Erinnere dich!“, insistierte der tote Horn Mitte der achtziger Jahre in Christoph Heins Roman „Horns Ende“, ohne jedoch selbst in Erscheinung zu treten. Nur als Schatten zwischen den Kapiteln brachte er sich in die Handlung ein. Der tote Horn entstand als Protagonist nur im Bewusstsein der anderen, in deren Erinnerung. Ein vielfach gebrochenes Spiegelbild. Durch diese Erzählstruktur, später in „Landnahme“ erneut praktiziert, fand Hein die adäquate und stets fesselnde Form für das Erinnern. „Unsere Erinnerungen sind eben keine nüchternen Aufzeichnungen, keine Filmaufnahmen. Unser Bewußtsein arbeitet mit tausend Spiegeln, von denen jeder tausendfach gebrochen ist“, hieß es in „Horns Ende“.
Dreißig Jahre nach „Horns Ende“ hallt das insistierende „Erinnere dich!“ noch immer nach, erfährt in Heins Roman „Glückskind mit Vater“ geradezu eine Renaissance. Erneut agiert der Schatten eines Toten und hält die Lebenden in Schach. Diesmal ist es der Schatten des toten Vaters, der den Sohn Konstantin Boggosch, den ich-erzählenden Protagonisten, sein Leben lang verfolgt. Nie vermag der Sohn gänzlich darüber zu springen, weil der Schatten länger und länger wird und ihn nicht mehr freigibt: Wettlauf von Hase und Igel auf der Erinnerungsspur. Es ist die Crux mit den Schatten der Väter, die die Kinder immer dann einholen, wenn sie als irdische Väter zu hoch in den Himmel wachsen und es den Kindern nicht vergönnt ist, sich von ihnen zu befreien.
Dabei hat Konstantin seinen Vater nie lebend zu Gesicht bekommen. Als er 1945 zur Welt kam, war sein Vater Gerhard Müller als Kriegsverbrecher in Polen bereits hingerichtet worden. Konstantins Mutter, die von den Gräueltaten ihres SS-Mannes nichts wusste, hatte sich sogleich von ihm losgesagt, für sich und ihre beiden Söhne Konstantin und Gunthard wieder ihren Mädchennahmen angenommen und bewusst darauf verzichtet, in den Westen zu gehen, wo ihr gar eine Kriegswitwenrente zugestanden hätte. Nein, sie wollte von ihrem Mann und dessen Bruder Richard in München – ein Revanchist, wie er im Buche steht – nichts mehr wissen. Sie nahm die Benachteiligung als Witwe eines Kriegsverbrechers im Osten in Kauf: bewusst gelebte Sühne! Sie stülpte die Käseglocke des Vergessens über ihre Kinder, um sie vor dem Schatten ihres Vaters zu schützen – und aktivierte ihn auf diese Weise erst recht! Nur der Dialog mit den Toten, wissen wir von Heiner Müller, verhindert deren Schattenwurf und die Auferstehung als Untote. So kommt, was kommen muss: Als die Mutter den Brüdern endlich die Wahrheit über ihren toten Vater erzählt, wird der zehnjährige Konstantin von dessen Schatten geradezu überrumpelt. Sein zwei Jahre älterer Bruder Gunthard geht eher pragmatisch damit um und tritt schließlich in Vaters Fußstapfen. Konstantin jedoch versucht, vor diesem Schatten zu flüchten, bricht mit vierzehn von zu Hause aus, um sich in der französischen Fremdenlegion zu verdingen, weil er glaubt, dort genügend Abstand zu seinem toten Vater zu gewinnen. Dort würde ihn niemand kennen und niemand nach seinem Vater befragen. Dort endlich würde er ihn vergessen können. Doch dieses Unterfangen schlägt natürlich fehl – die Fremdenlegion weist den Minderjährigen zurück. Stattdessen arbeitet er in Marseille in einem Antiquariat, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und gerät in einen Freundeskreis ehemaliger Resistancekämpfer, die während des Krieges in deutsche Gefangenschaft geraten waren. Und schon ist er wieder da, der Schatten des Vaters.
Wohin es Konstantin auf seiner Odyssee des Vergessens auch verschlägt, er kann sich nie von diesem Schatten befreien. Dass er sich im August 1961 aus Sehnsucht zu seiner Mutter besuchsweise wieder in die DDR begibt und schließlich in der DDR bleibt, gehört zu den Kuriositäten dieser Odyssee und erinnert an die Lebenslinie Christoph Heins selbst, der wegen des Schattens seines Vaters das Abitur in der DDR nicht ablegen durfte, deswegen nach Westberlin auswich und im August 1961, zu Besuch bei den Eltern, vom Mauerbau überrascht wurde und nicht mehr zurück nach Westberlin konnte. Überhaupt finden sich in „Glückskind mit Vater“, wie in jedem seiner anderen Romane, viele Parallelen und Anspielungen auf Heins Leben. Dass er Konstantin auf seiner Odyssee zweimal einen Pfarrerssohn treffen lässt, darf zu den autobiografischen Spielereien gezählt werden, die Hein immer wieder betreibt. Bei der Vorstellung seines Romans am 6. März dieses Jahres im Berliner Ensemble wies er noch einmal darauf hin, dass von ihm keine Autobiographie zu erwarten sei. Sein ganzes Leben habe er bereits in seinen Romanen erzählt. – Man muss als Leser nur filtern können.
In der DDR wird Konstantin immer wieder mit seinem toten Vater konfrontiert, die Hürden scheinen teils unüberwindlich. Aber als Glückskind, als dass er sich immer wieder gesehen hat, gelingt es ihm am Ende doch, seinen Mann zu stehen: Er wird Lehrer und schließlich bis zur Pensionierung nach der Wende Direktor in einem Provinznest. Der Schatten jedoch begleitet ihn selbst über die Wendewirren in die neue Zeit, mehr noch: Er droht sich in Gestalt seines Bruders Gunthard auf makabre Weise zu materialisieren. Dem Bruder werden nach der Vereinigung beider deutscher Staaten die Vulcano-Werke des Vaters rückübertragen (Konstantin verzichtet auf dieses Erbe). Gunthard baut ausgerechnet auf den Fundamenten des betriebseigenen KZ, das der Vater angefangen hatte zu errichten, einen neuen Betriebsteil und schwingt sich, wie vor dem Krieg der Vater, zum größten Arbeitgeber der Region auf, was die Bewohner mit Galgenhumor kommentierten: „Mein Mann hat Arbeit im KZ gefunden …“ Der Schatten des Vaters setzt sich am Ende durch und geht als Sieger aus der Geschichte hervor. Der Dialog mit den Toten hatte nicht stattgefunden – auch Konstantin hüllt sich gegenüber seiner zweiten Frau und einer jungen Journalistin, die ein Interview mit dem ehemaligen Direktor des Gymnasiums führen will, in Schweigen. Er will– aus der Erfahrung permanenter und systemübergreifender Sippenhaft klug geworden – nur noch seine Ruhe haben.
„Es gibt einfach nichts in meinem Leben, was sich zu erzählen lohnt. Gar nichts“, schottet sich Konstantin zu Beginn des Romans ab – mit einer Rigorosität, die das Ende von „Der fremde Freund“ wachruft. Danach erinnert er sich jedoch 500 Seiten lang, als triebe ihn das insistierende „Erinnere dich!“ aus „Horns Ende“ an.
Wie von Hein gewohnt, geht er schwierige Themen leichten Fußes an, verbindet private Schicksale mit gesellschaftlicher Brisanz und zeichnet erzählerisch ein deutsches Gesellschaftspanorama der letzten siebzig Jahre, in dem sich der historische Kehricht unter dem Teppich der Verdrängung als Futter für die untoten Gespenster angehäuft hat, die nunmehr mit aller Macht ihr Recht fordern.
Allerdings – und das ist das Problem bei „Glückskind mit Vater“ – verlässt Hein das erwähnte Erinnerungs-Credo aus „Horns Ende“ und spult Erinnerung formal wie eine Filmaufnahme ab. Konstantins Erinnerungen kommen wie nüchterne Aufzeichnungen daher. Selten hat die Bezeichnung „Chronist“ auf Hein so zugetroffen wie in diesem Roman. Allerdings auch im negativen Sinn: Chronologisches Erzählen, aufgefädelt auf die Perlenschnur des Erinnerns, läuft Gefahr, Langeweile zu erzeugen – trotz des spannenden Sujets und der großartigen Metaphorik von den Schatten der Väter. Die Dramatik des Romans ergibt sich ausschließlich aus dem Inhalt, obgleich der Einstieg mit Traumsequenz vom Raunenwäldchen – jenem verhängnisvollen Ort, auf dem einst das betriebseigene KZ gebaut werden sollte und heute der neue Betriebsteil der Vulcano-Werke steht – sowie der überraschende Wechsel der Erzählperspektive von der dritten in die erste Person zu Beginn des Romans auch eine spannende Form versprach. So aber bleibt der Roman in seiner Erzählstruktur hinter der von „Horns Ende“ oder „Landnahme“ zurück.
Christoph Hein: Glückskind mit Vater. Roman. Suhrkamp, Berlin 2016, 527 S., 22,95 Euro.
Schlagwörter: Christoph Hein, Erik Baron, Literatur, Roman