19. Jahrgang | Nummer 6 | 14. März 2016

Von Wandervölkern und Versatzstücken

von Dmitri Dragilew

Die Zahl der Autoren, die nach Deutschland aus den Republiken der ehemaligen UdSSR eingewandert sind und die sich nun auf Deutsch literarisch äußern, steigt kontinuierlich. Für mich gleicht diese Tatsache immer noch einem wundersamen Rätsel oder rätselhaftem Wunder, es liegt wahrscheinlich an einer besonderen Affinität und Neugierde, Ehrgeiz und Sprachtalent nicht auszuklammern. Die Themen, die manch einen Autor dabei beschäftigen, sind oft vorhersehbar: vertrauter Umgebung und eigener Biographie verpflichtet, bedient man gerne „russische“ Erlebnisse oder Überlieferungen der Verwandtschaft, die Ankunft in Deutschland oder Beobachtung der nächsten Diaspora-Community. Auch das Thema der Schwarzmeerküste ist nicht neu, spätestens seit dem Book-on-Demand „Von der Krim nach Deutschland mit 5 Euro“ von Toni Elfe, steht es im Raum. Allmählich befreien wir uns vom Kaminer-Phänomen und sprechen heute von Nellja Veremej und „russischen“ Absolventinnen des deutschen Literaturinstituts in Leipzig. Die Tendenz etabliert und entwickelt sich, wird zur Tradition. Während der Podiumsdiskussion „Dialog der Kulturen – Kultur des Dialogs“, die unlängst im Auswärtigen Amt stattfand, meinte Katja Petrowskaja: „Man ist nicht reduzierbar auf eine Identität“. Petrowskaja, die mit 30 Jahren Moskau wegen Berlin verlassen hatte, gehört zu der Sparte der Deutschschreibenden.
Tatjana Gofman war viel jünger, als sie mit ihrer Familie in Berlin-Marzahn landete. Sie studierte Slawistik an der Humboldt-Universität und promovierte an der Universität Zürich. Dass sie irgendwann zwangsläufig auf Deutsch publizieren würde, war vorprogrammiert. Aber wie virtuos, augenzwinkernd und zugleich tiefgründig sie mit einer Sprache umgeht, die sie nicht mit der Muttermilch aufgesogen hat, versetzt mich dennoch in großes Staunen. Ihre Selbstwahrnehmung lässt sich auch kaum auf eine Identität reduzieren. Nicht nur weil Gofman, wie sie berichtet, in ihrem Elternhaus diverse ethnische Wurzeln aufspürt. Gewiss weist die Familienstory vieler „russischer Autoren und Autorinnen“ Einiges auf. Allerdings nimmt „Sewastopologia“ – so heißt das literarische Debüt von Tatjana Gofman – in einem Umfeld von überbewerteten Werken und Reputationen (die nicht zuletzt dadurch entstanden sind, weil die Zeit dafür reif war und gesellschaftliche Nachfrage in der Luft schwebte), einen besonderen Platz ein.
Nein, die Konkurrenz möchte ich weder schmähen noch ihren Wert schmälern. Außerdem wäre dies keine gute Voraussetzung, um „Sewastopologia“ zu loben. Das Buch ist aus vielen Sichtwinkeln heraus zu empfehlen und hervorzuheben. Es ist nicht nur ein aufrichtiges Zeugnis der Ambivalenz der sowjetischen Vergangenheit sowie der Multivalenz eines Menschen unabhängig von seiner Herkunft. Und nicht nur ein gelungener Versuch, die sowjetische Mangelwirtschaft und postsowjetische Krämergesellschaft darzustellen, am Bild der Spinner und Penner, Hippster und Gangster von Berlin zu kratzen, ohne Furcht dem Trend zu trotzen oder gar politisch unkorrekt zu werden. Wir wissen, dass der Charme von Berlin unfertig ist, der Charme von Zürich etwas verstaubt und der Charme von Sewastopol weitgehend unerforscht.
Sollte allerdings jemand hoffen, in „Sewastopologia“ die Antworten auf die Ukraine-Krise zu finden, so wird er enttäuscht werden. Einen „normalen“ Roman mit mehr oder weniger fiktivem Plot, voll amüsierender oder spannender 08/15 Narrationen, mit denen man leere Abende stopfen kann, sollte hier auch niemand erwarten. Eine wissenschaftliche Abhandlung, die der Titelname vermuten lässt, ist es auch nicht. Während in der Ukraine und anderswo in Ost-Europa die nationale Identität heute nicht etwa im Rechtsstaat, sondern in „Blut und Boden“ gesucht wird, geht Tatjana Gofman auf eine andere Spurensuche. Von einem Wort zum nächsten Wort hüpft sie wie von Ort zu Ort, um Gemeinsamkeiten aufzuspüren: sprachliche, semantisch-spielerische, topografische. Sie liebt und lebt diese Wörter, ob russische oder deutsche, sie genießt ihre verschmitzte Anwesenheit und die seltsamen Zusammenhänge, die sie herstellt. Man wird katapultiert und zurückgefedert, geordert und geortet, dennoch fortbewegt. Vielleicht liegt der Autorin an dieser Fortbewegung sehr viel: ob Turkmenistan oder die Ukraine, Russland oder die Schweiz, Winniza oder Sewastopol, Berlin oder Zürich. Es geht ihr gleichzeitig um eine Bestandsaufnahme und eine Analyse. Poetisch und nüchtern, sachlich und romantisch. Um etwas festzuhalten, betrachtet die Autorin sich selbst als Teil der Landschaft und der verflossenen gemeinsamen sowjetischen Kindheit. Einer Kindheit, die bis zum Zerfall der großen Heimat meist ungetrübt war und trotz der einen oder anderen Kalamität in festen Bahnen verlief. Es sind kleine Details des Familienlebens, zu denen sie immer wieder zurückkehrt.
Eine akribische Erinnerungsgabe oder das Streben nach einer akribischen Erinnerung? Schreibt man Memoiren in relativ jungen Jahren? Die Fragen erübrigen sich, wenn es um eine Melancholie der Verluste geht. „Biographische Errungenschaften sind auch eine Folge der sowjetischen Verluste, die nicht gering sind“, sagt Katja Petrowskaja. Bei Gofman gerät der Leser in ein Geflecht aus Familienerlebnissen in der Heimat und Reflexionen über die Aufnahmekultur. Die Auswanderung fällt mit dem persönlichen Prozess des Erwachsenwerdens zusammen. Der Mythos Krim trifft auf den Mythos Sowjetunion und driftet ins Abseits, versiert serviert. In ein imaginäres Taurien, das immer unter Strom steht. Demzufolge erleben wir auch die Protagonistin meist in Bewegung: gedanklich zwischen den Ländern, bei einer Auseinandersetzung zwischen Vergangenheit und Zukunft, mittels beinahe versifikatorischer Einteilung von Silben und Fakten. Gofman nimmt uns auf die Reisen mit, sie führt uns gerne ein, ohne eine allumfassende Aufklärung in Sachen „sowjetischer Alltag und Migrationshintergrund“ zu leisten.
An einigen Stellen versucht sie gar nicht, die für den deutschen Leser verborgenen Kontexte aufzudecken, Anspielungen durch Äquivalente zu ersetzen. So bleibt die für jeden Russen bekannte Film- und Romanfigur Stierlitz einfach Stierlitz und die übrige Leserschaft kann sich Zeit nehmen, um via Internet schlau zu werden und Schritt zu halten. Es ist wie bei den Gedichten, es bietet sich nicht immer an, Anmerkungen und Fußnoten zu machen, Sternchen in den Text einzufügen, nicht mal auf der letzten Seite des Bandes. Läuft man dabei Gefahr, dass ein solcher Text ohne Anmerkungen etwas verlieren würde? Keineswegs! Trotz aller „Ints“ – Intellektualität, Intertextualität, Internationalität sind ja nicht hermetisch. Gofman vertraut ihrem Leser und wendet sich nicht an ein Publikum mit den gleichen kulturellen Erfahrungen, selbst wenn die Liebe zum Detail ausufert. Sowjetunion und Sewastopol sind ausgewogen dosiert, es ist genug von Berlin und Zürich da. Und trotz aller Erlebnisse, die geschildert werden wollen, bleibt die Poesie der wichtigste Bestandteil des Textes. Meiner Ansicht nach ist es eines der poetischsten Bücher, das im angefangenen Jahrhundert in deutscher Sprache geschrieben wurde. Und das Russische? „Das Russische plätschert mehrsprachig vor sich hin, es saugt französische, englische, deutsche, holländische, vorher arabische und gar chinesische Entlehnungen auf und presst sie durch ein grammolexikalisches Sieb“, schreibt Gofman und fügt weiter hinzu:
„Russisch ohne Lyrik geht nicht, das Land existiert als ein poetisches Projekt, eine Reihe von ihnen.“ Schließlich wurde die Krim einst von „häusertragenden“ Wandervölkern besiedelt, neue Metaphern mischen sich unter alte Erkenntnisse und die Sprachen einer globalisierten Welt bestehen aus Versatzstücken.

Tatjana Gofman: Sewastopologia, edition.fotoTAPETA Berlin, 2015, 272 Seiten, 18,50 Euro.

Dmitri Dragilew, geboren 1971 in Riga, lebt in Berlin. Er ist Dichter, Musiker, Publizist und Kulturhistoriker und Vorsitzender der Vereinigung russischsprachiger Autoren Deutschlands e.V.