von Herbert Wulf
Seit Januar 2016 empört Nordkoreas Regierung die Welt erneut mit Atom- und Raketentests. Die jüngsten Auseinandersetzungen mit UN-Sanktionen gegen Nordkorea und mit harschen Reaktionen und Beschimpfungen aus Pjöngjang haben eine lange Vorgeschichte mit immer wieder auftretenden Krisen. Von Mal zu Mal stärkt das isolierte Land unter der Herrschaft der Kim-Dynastie sein Nuklearpotenzial. Die erste Krise reicht in die 1980er Jahre zurück. Seither kam es immer wieder zu Lösungsansätzen und Absprachen mit anschließend erneuten Krisen und Rückschlägen. Auf Druck der damaligen Sowjetunion und der USA war Nordkorea 1985 dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten, weigerte sich aber, Inspektionen der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) zuzulassen.
In den 1990er Jahren kam es dann zum ersten großen Showdown: Pjöngjang experimentierte mit weitreichenden Trägerraketen und kündigte 1993 den Austritt aus dem Atomwaffensperrvertrag an, um dann aber einen Tag vor Ablauf der Kündigungsfrist am 11. Juni 1993 die Austrittserklärung in ein unbefristetes Moratorium zu verändern. Wirtschaftliche Hilfe und internationaler Druck brachten Nordkorea zurück an den Verhandlungstisch unter Beteiligung der USA, Chinas und Südkoreas.
1994 schlossen die beteiligten Länder einen Vertrag, in dem Nordkorea dem Baustopp zweier Graphitreaktoren zustimmte und Inspektionen der IAEA in Nuklearanlagen erlaubte. Als Kompensation lieferten die USA 500.000 Tonnen Öl und ein Konsortium, an dem auch die EU beteiligt war, sagte die Lieferung von zwei Leichtwasserreaktoren zu.
Diese Vereinbarung geriet im Jahr 1998 in eine Krise als Nordkorea die Langstrecken-Mehrstufenrakete Taepo-dong-1 testete und über Japan hinweg in den Pazifischen Ozean schoss. Die Regierung Kim Jong-il (der Vater des jetzigen Machthabers) war nicht bereit, über ihr Raketenprogramm zu verhandeln, es sei denn, diese fände im Rahmen eines allgemeinen koreanischen Sicherheitsarrangements statt und Nordkorea erhielte wirtschaftliche Kompensationen für den Verzicht auf den Export von Raketentechnologie nach Pakistan und in den Nahen Osten.
Nach monatelangen Verhandlungen stimmte Nordkorea schließlich im März 1999 zu, die umstrittenen unterirdischen Atomanlagen in Kumchang-ni inspizieren zu lassen. Ende Mai 1999 gab dann das amerikanische Außenministerium bekannt, dass die Installationen dieses Tunnelsystems nicht zur Herstellung von Atomwaffen geeignet seien. Im September 1999, nach der Zusage für weitere amerikanische Nahrungsmittellieferungen und nach Verabschiedung eines nordkoreanischen Testmoratoriums weit reichender Raketen, kam es zur zeitweisen Annäherung in den Beziehungen zwischen den USA und Nordkorea.
In dieser Zeit geriet die Clinton-Regierung innenpolitisch zunehmend unter Druck. Die Konservativen warfen ihr vor, erpresserisches Verhalten der Nordkoreaner mit wirtschaftlichen Geschenken zu belohnen. Doch die US-Regierung blieb bei ihrer Nordkoreapolitik, die Entwicklung von Atomwaffen mit „Zuckerbrot und Peitsche“ – wirtschaftliche Kooperation bei Zugeständnissen und Sanktionen bei Verweigerungen – zu verhindern.
Ihrem konservativen Credo folgend und in der Einschätzung, dass Clintons Nordkoreapolitik ausschließlich „Appeasement“ gewesen sei, kündigte Bush 2001 eine neue, kompromisslose Nordkoreapolitik an. Statt Verhandlung nahm der verbale Schlagabtausch zwischen den Regierungen in Washington und Pjöngjang deutlich zu. Die Nordkoreapolitik innerhalb der Bush-Regierung war aber durchaus widersprüchlich. Den Befürwortern der harten Linie, nordkoreanische Erpressung nicht auch noch mit Wirtschaftshilfe zu belohnen und so die mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten kämpfende „Schurkenregierung“ zu unterstützen, standen Kräfte im Außenministerium gegenüber, die für diplomatische Verhandlungen plädierten. In Pjöngjang war man unsicher, welche Politiklinie denn nun galt.
Die Einordnung Nordkoreas in „die Achse des Bösen“ in der Ansprache Präsident Bushs im Januar 2002 löste in Pjöngjang Befürchtungen eines möglichen Angriffs durch die USA aus. Dies ist das Trauma der nordkoreanischen Regierung: Von Nuklearmächten umringt (USA in Japan und Südkorea, China und Russland als unmittelbare Nachbarn), fühlt man sich in Pjöngjang in die Ecke gedrängt. Man warf der Bush-Regierung vor, sich nicht an das Abkommen von 1994 zu halten und das „kleine Land“ mit einem Präventivnuklearschlag zu bedrohen.
Die US-Regierung setzte die Öllieferungen aus. Nordkorea verwies die IAEA-Inspekteure des Landes und kündigte die Wiederaufnahme seines Nuklearprogramms an, angeblich, um damit Strom zu erzeugen. Schließlich drohte die Regierung Kim Jong-il mit der Beendigung des Raketenmoratoriums und kündigte am 10. Januar 2003 die Mitgliedschaft im Atomwaffensperrvertrag. Diesen rechtlich möglichen, bislang in der Geschichte des Vertrages aber einmaligen Schritt begleitete Nordkorea mit dem Hinweis, dies geschehe „als legitime Selbstverteidigung gegen Maßnahmen der USA“ und verwies darauf, man habe „keine Absicht, Nuklearwaffen zum jetzigen Zeitpunkt zu produzieren“.
Die dann folgenden, von Chinas Regierung moderierten Drei-, Fünf- und schließlich Sechs-Parteien-Gespräche (China, Japan, Nordkorea, Russland, Südkorea und USA) zur Beilegung der Krise blieben lange erfolglos, und Nordkorea erklärte mehrfach, an den Gesprächen nicht mehr teilnehmen zu wollen, da die Grundvoraussetzungen für einen Erfolg nicht gegeben seien. Die nukleare Krise erlebte mit der Behauptung des nordkoreanischen Außenministers am 10. Februar 2005, sein Land verfüge inzwischen über Atomwaffen, einen neuen Höhepunkt. Im Oktober 2006 erfolgte dann der erste nordkoreanische Atomtest.
Im Rahmen der Sechs-Parteien-Gespräche gelang dann 2007 abermals ein Durchbruch in den Rüstungskontrollverhandlungen. Die Regierung in Pjöngjang erklärte sich bereit, den fraglichen Atommeiler, in dem waffenfähiges Material produziert wurde zu schließen. Abermals wurde als Kompensation Wirtschafthilfe vereinbart. Doch das Tauwetter hielt erneut nur kurz. Bereits im Oktober 2008 verbot Nordkorea Nuklearinspektionen und vermeldete im April 2009, die Nuklearanlagen seien wieder reaktiviert und der Wiederaufbereitungsprozess für waffenfähiges Plutonium aufgenommen worden. Die IAEA berichtete, Nordkorea sei eine vollwertige Nuklearmacht.
Im Mai 2009 testete Nordkorea zum zweiten Mal einen Atomsprengkopf und nach einem weiteren Raketentest 2009 war die weitreichende Vereinbarung zur Abrüstung und Wirtschaftshilfe von 2007 gescheitert.
Eine erneute Annäherung ermöglichten die Sechs-Parteien-Gespräche im Februar 2012. Nordkorea erklärte sich bereit, das Urananreicherungsprogramm im Reaktor in Yongbyon zu suspendieren und keine weiteren Nukleartests durchzuführen, wenn die Verhandlungen konstruktiv geführt würden. Ein erneutes Arrangement enthielt ein Raketentestmoratorium sowie IAEA-Inspektionen. Die USA versicherten Nordkorea, keine feindlichen Absichten zu hegen und die bilateralen Beziehungen zu verbessern sowie humanitäre Hilfe zu leisten.
Im April 2012 testete Nordkorea abermals eine Rakete und die bekannte krisenhafte Spirale setzte erneut ein. Die USA stoppten die Nahrungsmittelhilfe und im Jahr 2013 folgte der dritte nordkoreanische Atomtest. Jahrelanges trickreiches Taktieren mit ständigen Rückschlägen und vielen ungelösten Streitpunkten, in welchem Umfang Nordkorea abrüsten müsse, begleiteten die nächste Verhandlungsrunde. Die nordkoreanische Regierung bezeichnet die UN-Sanktionen als „Kriegserklärung“ oder neuerdings als „gangsterartige Aggression der US-Imperialisten und seiner Anhänger“. Die Hauptbegründung für das Festhalten am Nuklearprogramm ist die Furcht vor einem Angriff durch die USA und der Sturz des „sozialistischen Systems koreanischen Stils“. Die Regierung Kim Jong-un betrachtet die Nuklearwaffen als Lebensversicherung.
Die jüngsten Atom- und Raketentests 2016 sowie die deutlich verschärften UN-Sanktionen sind eine abermalige Eskalation einer krisenhaften jahrzehntelangen Entwicklung. Die nach wie vor offenen Fragen für die internationale Gemeinschaft waren und sind: Welche Politik kann Nordkoreas Nuklearprogramm verhindern: Verhandlungen, Wirtschaftshilfe, Sanktionen oder gar Militäreinsätze? Wie kann der Geist, der aus der Flasche entwichen ist, wieder in die Flasche kommen und wie kann die Politik des Atomwaffensperrvertrags zur Verhinderung der Verbreitung von Atomwaffen wirkungsvoll aufrechterhalten werden? Oder ist es naiv zu glauben, Atomambitionen umkehren zu können, wenn erst einmal die ersten Waffen produziert sind?
Prof. Dr. Herbert Wulf leitete das Bonn International Center for Conversion von 1994 bis 2001. Er war Berater des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen UNDP zu Abrüstungsfragen in Nordkorea und als Gutachter verschiedener UN-Organisationen tätig, so für die Abrüstungsabteilung der UN, für UNDP zur Erstellung des jährlichen Human Development Report (1991 – 2002). Er arbeitet zur Zeit als Ko-Vorsitzender der „Reflection Group on the Monopoly of the Use of Force“ der Friedrich Ebert Stiftung.
Herbert Wulf arbeitete zuvor als Forschungsgruppenleiter (für die Kontrolle des Waffenhandels und der Rüstungsindustrie) beim Stockholm International Peace Research Institute SIPRI und am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.
Schlagwörter: Atomrüstung, Atomwaffensperrvertrag, Herbert Wulf, IAEA, Kim Jong Il, Nordkorea, Raketentest, Sechs-Parteien-Gespräche, UN-Sanktionen, USA, Wirtschaftshilfe