von Erhard Crome
Seit der Öffnung der Grenzen für syrische und andere Flüchtlinge im Sommer 2015 – am Ende waren es 1,1 Millionen Menschen – und Angela Merkels uneingelöstem Leerspruch: „Wir schaffen das“ hatten die Kanzlerin und ihre Unterstützer der deutschen Bevölkerung versichert, am Ende werde es eine „europäische Lösung“ geben. Der EU-Gipfel vom 18./19. Februar hatte sie nicht gebracht (Das Blättchen 5/2016) und auf einen zusätzlichen Gipfel am 7. (schließlich und 8.) März vertröstet. Der brachte wieder keine Lösung, lediglich einen nächsten Sondergipfel am 17. und 18. März. Damit war Merkels Konzept, vor den Landtagswahlen am 13. März in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt freudestrahlend die „europäische Lösung“ zu präsentieren, um den Kritikern ihrer Politik den Wind aus den Wahl-Segeln zu nehmen, gescheitert.
Jenseits parteipolitischer Taktierereien geht es inzwischen aber um den Fortbestand der Europäischen Union. Da verschiedene Staaten angesichts der Flüchtlingsbewegungen begannen, ihre nationalen Grenzen wieder zu kontrollieren, haben die Lobbyorganisationen der europäischen, vor allem deutschen Exportindustrie den Druck auf die EU-Kommission und die deutsche Regierung verstärkt, zu „Schengen“ zurückzukehren. Hieß es noch vor kurzem: „Scheitert der Euro, scheitert Europa“, so tönt es jetzt: „Scheitert Schengen, scheitert Europa“. Was völliger Unsinn ist. Vorher funktionierte die EU auch. Nur würde sich die Kostenkalkulation etlicher Firmen verändern, die ihre Lagerhaltung abgeschafft haben und sich aus anderen EU-Ländern, vor allem aus den Billiglohnländern des Ostens, „just in time“ die Zulieferteile auf den Hof fahren lassen. „Schengen“ heißt: Die Außengrenzen wieder zu schließen – „luftdicht zu versiegeln“, nannte das der ungarische Regierungschef Viktor Orbán drei Tage vor dem Gipfel – und die Binnengrenzen offen zu halten.
Deshalb soll der Weg über die Ägäis nun versperrt werden. Die Türkei soll den Türsteher abgeben für eine Veranstaltung, auf der sich die Familienmitglieder streiten, anschreien und raufen, zu der er aber nicht zugelassen werden soll; umgekehrt weiß er, wenn er nicht vor der Tür steht, wird das Lokal demoliert. Dessen sind sich der Sultan, sein Wesir und seine Beamten bewusst, und sie tun alles, das Honorar in die Höhe zu treiben. Als Gipfel-Überraschung wurde der Vorschlag des türkischen Premiers, Ahmet Davutoglu, bezeichnet, jeden illegal über die Ägäis nach Griechenland gelangten Migranten zurückzunehmen, wenn die EU im Gegenzug einen legal in der Türkei um Übersiedlung nach Europa nachsuchenden Flüchtling aufnimmt. Damit würde die illegale Zuwanderung nach Griechenland zum Erliegen kommen, Schleuser hätten nichts mehr zu verdienen. Aus diplomatischen Kreisen war zu vernehmen, Davutoglu und Merkel sowie der niederländische Regierungschef und amtierende Ratsvorsitzende, Mark Rutte, hätten am Sonntagabend in Brüssel fünf Stunden über diesen Plan beraten. Die übrigen Staats- und Regierungschefs seien am Montag „völlig überrumpelt“ gewesen, was den Verdacht nährte, Merkel habe an dem Vorschlag mitgeschrieben. Davutoglu kokettierte später noch mit der Mitteilung, er habe nicht nur vor den Verhandlungen mit Merkel konferiert, sondern während deren Verlaufs auch noch mit ihr SMS ausgetauscht. Deutsche Delegationsmitglieder versuchten, den Eindruck eines diplomatischen Komplotts zu zerstreuen; sie seien ebenfalls „überrascht“ gewesen.
Als Gegenleistung verlangte die türkische Seite zusätzlich zu den bereits im November 2015 vereinbarten drei Milliarden Euro für die Versorgung Schutzbedürftiger in der Türkei weitere drei Milliarden (also insgesamt sechs Milliarden Euro bis 2018), die Wiederaufnahme beziehungsweise Beschleunigung der Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei sowie die Visafreiheit für türkische Staatsbürger bei der Einreise in die EU ab 1. Juni 2016.
Alle diese Punkte sind problematisch und unausgegoren. Beginnen wir mit dem Flüchtlingsdeal im engeren Sinne. Das UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) sowie Pro Asyl und die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch halten es für fragwürdig, die Türkei als „sicheren Drittstaat“ einzustufen. Das gelte nur, wenn das Land die Genfer Flüchtlingskonvention ohne geographischen Vorbehalt ratifiziert habe, was bei der Türkei nicht der Fall sei. Syrer genießen „temporären“ Schutz, können aber kein Asyl beantragen. Hinzu kommt der Krieg, den das Erdogan-Regime in Kurdistan gegen die eigene Bevölkerung führt. Kurdische Kämpfer und Kämpferinnen aus Nordsyrien – dort eigentlich Verbündete auch der USA – gelten in der Türkei als „Terroristen“, mit dem sogenannten Islamischen Staat auf eine Stufe gestellt, könnten vor Verfolgung durch den türkischen Staat in der EU Asyl suchen und kaum in die Türkei zurückgeschickt werden. Zugleich müsste nach den geltenden Bestimmungen über die Umsetzung des türkisch-griechischen Rücknahmeabkommens von 2001 in Griechenland eine individuelle Prüfung jedes Einzelfalls erfolgen, die schriftlich festzuhalten ist. Der Plan könnte also nur funktionieren, wenn es in Griechenland eine große Zahl von Beamten – aus Griechenland beziehungsweise der EU – gäbe, die all die Tausende von Fällen tatsächlich prüfen, bevor die Menschen in die Türkei zurückgeschickt werden.
Nicht besser sieht es um die anderen Elemente dieses beabsichtigten Deals aus. Der tschechische Ministerpräsident, Bohuslav Sobotka, hatte mitgeteilt, die Tschechische Republik sei vorbereitet, syrische Flüchtlinge direkt aus der Türkei aufzunehmen. Was auf dem ersten Anschein nach wie Zustimmung klang, stellte sich rasch als faktische Ablehnung heraus: Er will sie auf die nach wie vor unerfüllte „Quote“ der Flüchtlingsverteilung vom vergangenen Jahr anrechnen. Viktor Orbán hatte bereits auf dem Gipfel ein Veto dagegen eingelegt, Migranten direkt aus der Türkei in der EU zu verteilen. Frankreich ist gegen die Visafreiheit für Türken. Zypern lehnt beschleunigte EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ab, angesichts der Tatsache, dass der Norden Zyperns noch immer türkisch besetzt ist. Auch die Finanzierung der zusätzlichen drei Milliarden Euro ist – bisher jedenfalls –ungeklärt. Aus Brüssel wird vage darauf verwiesen, das werde wohl durch die EU-Staaten und aus dem EU-Budget erfolgen. Auch das bedürfte der Zustimmung aller, es sei denn, Deutschland würde einen größeren Teil übernehmen. Was wiederum der deutschen Bevölkerung erklärt werden müsste, obwohl Wolfgang Schäuble doch bisher der Geist war, der stets verneint.
Vor Beginn des Gipfels hatte sich Angela Merkel dagegen gesträubt, den Satz, die Westbalkanroute sei nun geschlossen, in die Gipfel-Erklärung aufzunehmen. Gleichwohl heißt es in dem Papier: „Bei den irregulären Migrationsströmen entlang der Westbalkanroute ist nun das Ende erreicht.“ EU-Ratspräsident Donald Tusk begrüßte dies ausdrücklich. Es sei „keine Frage einseitiger Maßnahmen, sondern von gemeinsamen Beschlüssen der 28 EU-Staaten.“ Das ist die nachträgliche Absolution für die einseitigen Maßnahmen, die Ungarn, Österreich, Slowenien, Mazedonien und andere getroffen haben. Die „Visegrád-Staaten“ sehen sich im Recht. Deutschland scheint isoliert wie lange nicht.
Die wirklich Leidtragenden sind die tausenden Flüchtlinge, die jetzt in Griechenland festsitzen, in Regen und Schlamm. Und Griechenland, dem eine Last aufgebürdet wurde, aus einer „Ungnade der Geographie“ heraus, die es, ausgelaugt wie es ist, kaum zu tragen vermag. Oder ist es eine Ungnade der Politik? Als Merkel beschloss, die Flüchtlinge ohne Schengen-Regeln nach Deutschland zu holen, saßen die fest in einem Bahnhof und Umgebung im Sommer in Budapest. Es war warm, es gab öffentliche Toiletten – und eine ungarische „Unwillkommenskultur“. Die Bilder hielt Merkel für nicht hinnehmbar. Politisch entlastet wurde Orbán. Die Bilder von Idomeni sind viel schlimmer. Der linken Regierung in Griechenland wird versichert, man werde sie nicht allein lassen. Doch zurechtkommen mit der Lage müsse sie gefälligst selbst.
Schlagwörter: Angela Merkel, Erhard Crome, EU-Gipfel, Flüchtlingspolitik, Griechenland, Syrien, Türkei, Visegrád-Staaten