von Erik Baron
Auf dem Grund des Sees ruht seit letztem Sommer ein Ertrunkener und treibt sein magisches Unwesen mit den Anwohnern. Keiner traut sich mehr ins Wasser hinein. Still und glatt liegt der See. – Nein, es ist kein Flüchtling auf dem Grund des Mittelmeers, der auf seiner Flucht nach Europa ertrunken ist, obgleich sich dieses Bild beim Lesen von Jenny Erpenbecks Roman unwillkürlich aufdrängt. Diese Metapher wäre zu simpel. Nein, es sind die Untoten, die nicht ruhen, die uns beherrschen und mit unsichtbarer Hand durch unser Leben dirigieren. Nur der Dialog mit ihnen, lehrte uns einst Heiner Müller, würde uns davor bewahren, von ihnen in ihr Reich hineingezogen zu werden. Doch wer will in unserer schnelllebigen Zeit schon mit Untoten reden? Den Blick zurückwenden, wenn es nur darum geht, schnellstmöglich nach vorn zu schauen und mit Hilfe seines Ellbogens Fuß zu fassen? Getriebene sind wir, von uns selbst Getriebene, die nicht ahnen, dass die Untoten hinter uns viel schneller sein werden als wir es je könnten. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Eine Frage der Zeit – wer eigentlich nimmt sich die Zeit, sie sich zu stellen? Jenny Erpenbeck, zum Beispiel, gewährt ihrem Protagonisten Richard diese Zeit. Richard ist emeritierter Professor für alte Sprachen und scheint plötzlich aus der Zeit gefallen zu sein – indem er plötzlich über eine Unmenge Zeit verfügt. „Die Zeit ist jetzt eine ganz andere Art von Zeit“, lässt ihn Epenbeck zu Beginn ihres Romans denken. Denn das Denken, so stellt Richard fest, hört mit dem Ende seiner Tätigkeit im Institut nicht plötzlich auf. Es denkt immer weiter in ihm, und Erpenbeck versetzt ihn immer wieder in den Dialog mit seinen Gedanken. Und so wie Gedanken ungefragt und unkontrolliert erscheinen, strömen sie unwillkürlich in den Erzählfluss von Erpenbeck hinein. Scheinbar zusammenhanglos konfrontiert sie den Leser mit einem Gedanken Richards, der sich plötzlich zwischen zwei Sätze gemengt hat – ein Stilmittel, das Erpenbeck bereits früher angewendet hat: plötzlich steht, mitten im sanften Erzählfluss, ein Koloss von Satz, an dem jedes Boot anecken muss, das auf ihm gemütlich entlang schippert. Alles eine Frage der Zeit. Und so denkt es auch folgenden, für Richard lebenswendenden Gedanken in ihm: „Über das, was Zeit eigentlich ist, kann er wahrscheinlich am besten mit denen, die aus ihr hinausgefallen sind. Oder in sie hineingesperrt, wenn man so will“ – der Beginn der Annäherung mit den afrikanischen Flüchtlingen vom Berliner Oranienplatz aus dem Jahr 2013. Denn wie er als emeritierter Professor verfügen auch sie, die Toten auf Urlaub, wie er sie später nennen wird, über ein Übermaß an Zeit. Nur dass sie in ihr eingesperrt sind, während er frei über sie verfügen kann. Und er nimmt sich seine frei verfügbare Zeit und teilt sie mit den Afrikanern, aus deren Lebensgeschichten sie plötzlich als Menschen, als Individuen auftauchen, während die vom Zeitgeist Getriebenen sie immer nur als Flüchtlinge, als quantitative Größe wahrnehmen, die immer mehr zur Gefahr werden, je größer deren Zahl wird. Dass hinter jedem einzelnen Flüchtling ein persönliches Schicksal steckt, interessiert die getriebene Öffentlichkeit einen Kehricht – trotz behördlicher Einzelfallprüfung, die deren Schicksale aber eben nur als Fall behandelt, als Fall nach Dublin II.
Richard aber nimmt sich die Zeit und erfährt auf diese Weise dramatische Lebens- und Fluchtgeschichten. Vertrieben aus ihrer Heimat, vertrieben durch Gewalt, durch Pogrome, durch Massaker, griffen sie den letzten, gefährlichen Strohhalm der Überfahrt nach Europa, setzten ihr eigenes Leben aufs Spiel, nur um endlich in Ruhe leben und arbeiten zu können. Und wenn sie es dann tatsächlich geschafft haben sollten, ins ersehnte Paradies Europa zu gelangen, wurden sie neuerlich in Lager gesteckt, erfuhren sie Zustände im erhofften Frieden, die sie fast schon wieder an Krieg erinnerten. Willkommenskultur? Mitnichten! Abschottung auf der ganzen Linie! Und das eherne deutsche Gesetz steht Spalier!
Richard jedoch stellt sich mit seinem Interesse für die Flüchtlinge gegen den allgemein herrschenden Zeitgeist der Abschottung. Er erfährt viel Neues aus den Mündern der Überlebenden, erfährt vor allem, wie wenig er selbst über Afrika weiß, über die dort lebenden Menschen, deren Sitten, deren Sprachen und lernt sich schnell in die Situation der Fremdheit hineinzuversetzen, der die Geflüchteten hier im bürokratischen Urwald Deutschlands ausgesetzt sind. Er bietet seine Kraft, Zeit und Unterstützung bei Behördengängen an, um den Flüchtlingen einen ersten kleinen Halt in der Fremde zu geben. Und er hat ein Ohr für ihre Geschichten, die aus den Köpfen der Flüchtlinge herauserinnert werden müssen, damit sie sie nicht von innen auffressen. Geschichten, die ihn auch an Homers „Odyssee“ oder „Ilias“, oder an Ovids „Metarmophosen“ erinnern – gehen, ging, gegangen – alles ist in Bewegung, alles ist vergänglich. Auf diese Weise erfährt Richard die Verschiebung der Dimension eigenen Wissens: „Noch nie ist ihm der Zusammenhang zwischen Raum, Zeit und Dichtung so klar geworden wie in diesem Moment“, als ihm der junge Apoll aus Niger von den Kamelkarawanen durch die Wüste erzählte, bei denen sie sich in der Nacht an den Sternen, am Tage jedoch an überlieferten Geschichten orientierten. Orientierung an Geschichten! Überleben durch Erinnern! Und der junge Osarobo, den er zum Klavierspielen mit nach Hause nimmt, lehrt Richard einen völlig neuen Zugang zur Musik: erst durch das eigene Zuhören würde aus Tönen Musik – selbst Osarobos unbeholfenes Geklimper gerät in den Ohren Richards zu klangvoller Musik, weil er Osarobos Zuhören hören kann! Begegnet man den Geflüchteten auf Augenhöhe, so Richards Erfahrung, dann ist der Zugewinn ein beidseitiger, und Hilfe wird am Ende zur Selbsthilfe. So auch, wenn Richard vollkommen selbstlos für Karon ein Grundstück in Ghana kauft, damit sich dessen Familie vor Ort selbst versorgen kann und nicht auf Karons behördliche Almosen angewiesen ist. – Alles jedoch Tropfen auf den heißen Stein der Hoffnungslosigkeit, unter dem die Flüchtlinge zu ersticken drohen und von dem auch Richard zunehmend erschlagen wird. „Wann“, so fragt sich Richard, „ist der Übergang passiert, der aus ihm, dem mit großen Hoffnungen für die Menschheit, einen Almosengeber gemacht hat?“ Irgendwann nach dem Mauerfall „ist er eingeknickt und versucht nun im Kleinen … das eine oder andere Gute zu tun.“
Während Richard die Nähe, das Vertrauen und vor allem die Geschichten von den Flüchtlingen erfährt, verliert er aber die großen Fragen, das Wesen der Flüchtlingskrise betreffend, nicht aus den Augen. Jenny Erpenbeck versetzt ihn immer wieder zurück in seine Reflexionsebene und lässt ihn über diese Fragen nachdenkend an behördlicher Willkür und dem unbarmherzigen Wesen der Gesetze zunehmend verzweifeln. Da wird eine Protestdemonstration der Afrikaner gegen ihre Abschiebung von Seiten der Polizei so lange hinausgezögert, bis es fast zum kollektiven Kollaps kommt. Da wird protestierenden Flüchtlingen in einem Heim willkürlich das Wasser abgestellt. Da werden Mannschaftswagen aufgefahren, um Flüchtlinge aus ihren Unterkünften herauszuholen, die nach Dublin II wieder zurück in ihre Ankunftsländer abgeschoben werden sollen. Insofern ist Erpenbecks Roman auch ein wütender, verzweifelter, fast hilfloser Aufschrei gegen die deutschen Verhältnisse, die sich gerne hinter ihren Gesetzen verbergen, während der deutsche Michel wutschnaufend auf die Kosten verweist, die die Flüchtlinge durch ihren Abtransport der Staatskasse verursachen würden – „wie das auch in anderen Zeiten, wenn Deutschland irgendwen hat abtransportieren lassen, üblich gewesen ist.“ – Hier kehren sie wieder, die untoten Gespenster aus längst vergangenen Zeiten. Hier hat sich „die einfache und volkstümliche Wahrheit FÜR ALLE REICHT ES NICHT“ (Heiner Müller) endgültig durchgesetzt.
Der Tote im See wird weiter sein Unwesen treiben. Und auch die vielen Ertrunkenen im Mittelmeer werden sich eines Tages als Untote über uns erheben.
Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen, Knaus Verlag, 2015, 352 Seiten, 19,90 Euro.
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