19. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2016

Wenig Herz und kein Verstand

von Petra Erler

In der heißen Phase der Kandidatenauswahl für den vorjährigen Friedensnobelpreis entdeckte die Bundeskanzlerin mit viel Herz, wie ihr die internationale Presse bescheinigte, die Notwendigkeit der Verteidigung europäischer Werte angesichts des rüden Umgangs der Ungarn mit Flüchtlingen. Nun hätte die Kanzlerin zur Verteidigung dieser Werte ihren Parteifreund Viktor Orban an den Ohren nach Brüssel ziehen können, um im Kreis der sogenannten Solidargemeinschaft EU das Richtige zu tun, aber das ist Schnee von gestern. Kein gestriger Schnee ist, dass die Bundeskanzlerin in seltener Klarheit betonte, ein Deutschland, das in der Flüchtlingsfrage ein unfreundliches Gesicht habe, wäre nicht mehr ihr Land. Seitdem darf man sich fragen, ob Deutschland noch das Land der Kanzlerin ist.
Zeigt Deutschland in der Flüchtlingsfrage ein freundliches Gesicht? Befindet sich Angela Merkel vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben in der inneren Emigration? Oder glaubt sie schlicht, ein freundliches Gesicht sei alles, was man zur Bewältigung der Flüchtlingsfrage durch Deutschland und die EU brauche? Die vielen hilfsbereiten Menschen und ehrenamtlichen Helfer werden es schon richten. Und im Zweifel ist eben die EU dran schuld, an der man manchmal schier verzweifeln könnte. Deutschland natürlich immer ausgenommen.
Nehmen wir etwa den deutschen Beitrag zum EU Trust Fund, der in Syrien und seinen Nachbarländern helfen soll, das Flüchtlingselend zu mildern. Beschlossen 2014 auf Initiative der Europäischen Kommission und Italiens, mit einem Volumen von zunächst 40 Millionen Euro. Deutschland sagte damals 5 Millionen zu. Im September 2015 entschieden die 28 EU-Regierungschefs, dass dieser Fonds ein Volumen von einer Milliarde Euro haben sollte. Ausweislich der Bilanz der Europäischen Kommission vom 29. Januar 2016 fehlt fast die Hälfte der Mittel. Die deutsche Zusage: 5 Millionen Euro. Und das, obwohl die Kanzlerin nicht müde wird zu betonen, dass die EU zusammenstehen müsse. Derzeit stehen in der EU alle irgendwo, nur nicht zusammen, Zusagen werden großspurig gemacht und vergessen.
Immerhin, wir Deutsche haben uns auf der dritten Geberkonferenz zu Syrien in London sehr viel großzügiger gezeigt als alle anderen und allein für 2016 1,3 Milliarden Dollar zugesagt. Viel Geld ist in London zugesagt wird. Hoffen wir, dass es fließt. Ob es für die Millionen ihrer Wohnstatt beraubten Syrer reichen wird, weiß niemand. Wie viel Geld es noch brauchen wird, bis sich die Staatengemeinschaft zu einer politischen Bewältigung des Konflikts aufrafft, auch nicht.
Als Merkels Parteifreund Orban die Grenzen verbarrikadierte, war die Frau Bundeskanzlerin entsetzt – menschlich und wertemäßig betrachtet. Heute ist sie entsetzt, dass die Griechen nicht in der Lage sind, ihre Grenzen zu verbarrikadieren. Diese Griechen (wieder mal sie) haben gar keine ordentlichen Kontrollen, kein Bewusstsein, dass auch Terroristen kommen könnten. Die Europäische Kommission und die EU-Innenminister sind entrüstet, wo doch in der Rest-EU selbstverständlich alles ganz anders ist: Da reisen keine Terroristen von hie nach da, da gehen keine Kinder verloren, da funktioniert die Erfassung von Flüchtlingen wie am Schnürchen. Kein Wort fiel bei den EU-Innenministern zu den Ertrunkenen im Mittelmeer, die auf Kos und Samos die Leichenhallen füllen. Allein im Januar 2016 sollen mehr als 200 Menschen im Mittelmeer ertrunken sein. Unser Entsetzen darüber ist flüchtig.
Und die Financial Times orakelte jüngst, dass man den Griechen einen Deal anbieten könne: Flüchtlingsaufbewahrung gegen Schuldenerlass.
Auch die Türken sind inzwischen groß im Spiel. Wir erwarten, dass sie gefälligst mehr für die Integration der Syrien-Flüchtlinge tun. Da entdeckt die Kanzlerin plötzlich die Bedeutung der Türkei, die für sie als CDU-Vorsitzende nicht zum EU-Mitglied taugt. Wohl aber zur Flüchtlingsintegration. Denn, so die Logik, wenn die Türken die Flüchtlinge bei sich behielten und die Griechen ihre Arbeit ordentlich machten, kämen nicht so viele neue Flüchtlinge an deutschen Grenzen an. Allenfalls säßen sie auf griechischen Inseln fest und, egal wie viele kommen, dank der Quote (die schon jetzt nicht funktioniert) käme nur ein Bruchteil nach Deutschland. So kann man getrost ein freundliches Gesicht aufsetzen und darüber streiten, ob oder ob man es nicht schafft, syrische Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen. Die eigentliche Denkaufgabe, das „Wie“ zu klären, bleibt einem dadurch erspart. Ist ja auch nicht wichtig, wenn man der Meinung ist, dass diese Leute sowieso wieder gehen müssen. Und damit der Rückweg nicht ganz so weit ist, egal ob das Land in Schutt und Asche liegt, wäre es doch ohnehin besser, wenn die Leute in der Nachbarschaft blieben, sozusagen unter sich. Muslim zu Muslim. Ist doch freundliche Politik, oder?
Die Türkei ist zwar wesentlich ärmer als Deutschland, hat es aber geschafft, 2,4 Millionen syrische Bürgerkriegsflüchtlinge aufzunehmen. Nur mit den Arbeitsgenehmigungen dort hapert es. Und mit dem Grenzschutz auch.
Nun will die EU (seit vier Monaten) 3 Milliarden Euro in die Hand nehmen, damit die Türken die Integration syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge ernst nehmen und außerdem ihre Küsten besser schützen. 3 Milliarden EU-Hilfen für die Türkei sind, so gesehen, fast geschenkt – nicht mal 1300 Euro pro Nase. Da kostet Flüchtlingspolitik in Deutschland viel, viel mehr. Bis 2017, hieß es jüngst, müssten wir 50 Milliarden Euro stemmen. Deshalb hat Erdogan jetzt angefangen, neu zu rechnen.
Oder sollten wir doch noch mal ein Wörtchen mit den Jordaniern reden? Jordanien ist tatsächlich in einer sehr komplizierten Lage: 6,5 Millionen Jordanier haben sage und schreibe rund 1,4 Millionen Syrer im Land. Die Unterstützung aus der EU betrug nicht mal 1000 Euro pro zu versorgendem Flüchtling (580 Millionen Euro, Stand Dezember 2015). Laut jordanischen Angaben wurde das Land von der internationalen Gemeinschaft weitgehend mit der Aufgabe allein gelassen. Nur 37 Prozent der nötigen Finanzmittel für das Jahr 2015 wurden international aufgebracht. Nach dem Willen der EU-Entwicklungsminister soll sich das nun ändern. Sie ließen nach ihrer jüngsten informellen Tagung verlauten, dass es nicht reiche, Flüchtlingen (in Jordanien und Libanon) Sicherheit zu bieten, Essen und Trinken und ein Dach über den Kopf zu geben. Sie würden auch „Arbeit brauchen, Bildung für ihre Kinder und einen Platz in der Gesellschaft“. Und zwar fix. Was das fix betrifft, sind wir gerade in Deutschland auf dem Weg der Ernüchterung.
Nur schade, dass niemand auf die Idee kommt, mal im 4-Millionen-Staat Libanon, der 1,1 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen hat, oder bei den Jordaniern nachzufragen, wie sie den Zusammenbruch verhindert haben, bei diesen enormen Flüchtlingszahlen, wo doch die EU mit 500 Millionen Einwohnern schon bei einer Million Flüchtlingen (2015) im absoluten Krisenmodus tickt.
„Wir erleben so direkt wie nie, dass in unserer globalisierten Welt Kriege, Konflikte und Perspektivlosigkeit, die es vermeintlich nur sehr weit von uns entfernt gibt, immer häufiger bis vor unsere Haustüren gelangen“, sagte die deutsche Kanzlerin vor dem Bundestag im Oktober 2015. Ach ja, Neuland Außenpolitik!
Also macht sich deutsche Politik inzwischen daran, in europäischer Solidarität die Haustür zu verschieben und Pufferstaaten zu schaffen. Wie etwa Mazedonien, in der Hoffnung, der ewige Namensstreit mit den Griechen werde schon dafür sorgen, dass dieses Land keine echte EU Perspektive hat.
Heute reiche es nicht mehr aus, aus einem Kriegsgebiet zu kommen, sagte ein junger Kriegsflüchtling aus Afghanistan. Heute müsse man auch noch beweisen, dass es nicht sicher wäre, dort zu bleiben.
Na bitte, so geht das doch! Marokko und Algerien – ganz unproblematische Länder inzwischen. Syrien wird wieder gut, dito Afghanistan. Jedenfalls möchten wir uns das einreden. Die Türkei ist viel besser geworden. Und dann ist da noch Pakistan.
Und eh ich es vergesse, der Vorschlag des Bundespräsidenten; „Das Für und Wider und auch das Maß an Aufnahmebereitschaft“ in Deutschland diskutieren zu wollen (auf gut deutsch: Wie viele Flüchtlinge wollen wir uns leisten?) ist schlicht die falsche Frage. Was, wenn die Welt nicht mitspielt und noch unsicherer wird? Was, wenn Türken, Jordanier, Libanesen oder Ägypter auch anfangen, so zu denken? Schließlich kann man doch in dem Bestreben, „möglichst vielen zu helfen, nicht allen helfen“, und da muss es dann doch schon mal heißen: Pech gehabt. Isch over. Oder?