19. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2016

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

In seiner am 26. Januar präsentierten Vorjahresbilanz der russischen Diplomatie hat sich Außenminister Sergej Lawrow auch zum Stand der deutsch-russischen Beziehungen geäußert: „Ich würde die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland nicht als Beziehungen bezeichnen, die in einer Krise geschweige denn in einer Sackgasse stecken. Wir haben einen intensiven Dialog auf der höchsten Ebene zwischen Russlands Präsident Wladimir Putin und der Kanzlerin Angela Merkel, auf der Ebene der Außenminister und anderer Minister. Die Tätigkeit von mehreren Mechanismen, die unsere Vorwärtsbewegung fördern, wurde erschwert, jedoch nicht eingestellt, vor allem dank der Position der deutschen Wirtschaft, die die Tätigkeit zur Festigung der Verbindungen mit russischen Partnern fortsetzt. Ich habe gehört, dass einige […] deutsche Unternehmen ihre Tätigkeit in Russland einstellten, die Zahl der in Russland tätigen Unternehmen liegt jedoch immerhin bei mehreren Tausend.“
Bei gleicher Gelegenheit nahm Lawrow allerdings erneut das Vorgehen Berliner Behörden im Fall jener russlanddeutschen 13-Jährigen aufs Korn, die angeblich von südländischen Männern entführt und vergewaltigt worden war, weil „die Nachricht über ihr Verschwinden aus irgendwelchem Grund lange verheimlicht wurde. […] Es ist klar, dass das Mädchen nicht freiwillig für 30 Stunden verschwand.“
Klar war zum Zeitpunkt von Lawrows Einlassung allerdings bereits etwas gänzlich anderes – nämlich dass die rechtsmedizinische Untersuchung der Jugendlichen keinen Hinweis auf sexuellen Missbrauch ergeben und dass sie selbst bei ihren behördlichen Befragungen unterschiedliche, einander widersprechende Versionen des Vorgangs zu Protokoll gegeben hatte.
Diese Gleichzeitigkeit im Auftritt Lawrows – oben lächeln, unten holzen – liefert ein treffliches Abbild des deutsch-russischen Verhältnisses, wozu auch die Retourkutsche des deutschen Außenministers passt: Im Fall der angeblich vergewaltigten Russlanddeutschen verbitte er sich Einmischung aus Moskau. Es gebe keinen Grund und keine Rechtfertigung, den Fall dieses Mädchens für „politische Propaganda“ zu nutzen, um damit die ohnehin schwierige Migrationsdebatte in Deutschland anzuheizen.
„Töne wie zur Zeit des Kalten Krieges“, konstatierte die Berliner Morgenpost.
Apropos „keinen Grund und keine Rechtfertigung“: Das dürfte Moskau ganz anders sehen, auch wegen des Agierens deutscher Politiker in Fällen wie dem des Oligarchen Michail Chodorkowski und der Krawall-Band Pussy Riot.
Ein Anfang vom Ende der deutsch-russischen Animositäten oder gar der Krise im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland ist also nicht in Sicht. Neue Ansätze, etwa auf Russland zuzugehen, sind weder in Berlin noch in Brüssel oder anderen Zentren des Westens zu erkennen:

  • Nicht im Hinblick auf künftige EU- und NATO-Erweiterungen. Im Gegenteil – wiederum unter Ignorierung Russlands umwirbt die EU neben der Ukraine und Georgien im Rahmen ihrer „Östlichen Partnerschaft“ auch Armenien, Aserbaidschan, Belarus und Moldau, vier weitere postsowjetische Staaten. Zwar weiß das Auswärtige Amt fein zu unterscheiden: „Östliche Partnerschaft ist Teil der EU-Außenpolitik und damit von der Beitrittspolitik getrennt.“ Aber das Beispiel Ukraine hat gezeigt, dass man auf dieser Grundlage zumindest zu einer EU-Assoziierung und zur verbrieften Anwartschaft auf den NATO-Beitritt kommen kann. Das Beispiel Ukraine könnte sich daher auch in anderer Hinsicht wiederholen. Dazu der „Doyen der russischen Außenpolitik“ (O-Ton Der Spiegel), Sergej Karaganow: „Selbst wenn der Preis hoch ist, will Russland den Westen lehren, seine Interessen zu respektieren.“
  • Nicht im Hinblick auf die Sezession der Krim. Natürlich kann man den Blick darauf fokussieren und mit Angela Merkel fragen: „Wer hätte es für möglich gehalten, dass 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges die europäische Friedensordnung durch die Annexion der Krim in Frage gestellt wird?“ Tatsächlich sind in diesem Fall jedoch zwei Grundprinzipien des Völkerrechts kollidiert, die sich in der Praxis ausschließen können – wofür das Völkerrecht selbst praktisch keine Regelung vorgeben kann, weil beide Prinzipien gleichermaßen konstitutiv sind.
    Einerseits gelten völkerrechtlich der „Grundsatz der souveränen Gleichheit“ aller Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen (Artikel 2, Absatz 1 UN-Charta) und die daraus abgeleitete Verpflichtung, „in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete […] Androhung oder Anwendung von Gewalt“ zu unterlassen (Artikel 2, Absatz 4 UN-Charta).
    Andererseits gilt aber auch der „Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker“ (Artikel 1, Absatz 2 UN-Charta), und wenn nach diesem Grundsatz die Weichen auf Sezession gestellt werden (im Falle der Krim durch die dort mehrheitlich siedelnden ethnischen Russen), ist eine Kollision unvermeidlich.
    Dass russisches Militär auf der Krim die ukrainische Zentralmacht daran gehindert hat, das Referendum über die Sezession zu unterbinden, verhalf in diesem Fall der „Selbstbestimmung der Völker“ überhaupt erst zur Wirkung – um den Preis einer „gegen die territoriale Unversehrtheit [der Ukraine gerichteten – S.] Androhung […] von Gewalt“.
    Die Ergebnisse des Referendums waren unzweideutig. Um die problematischen Begleitumstände zu „heilen“, ist daher vorgeschlagen worden, die Volksabstimmung unter der Ägide der OSZE zu wiederholen.
    Das ist wahrscheinlich keine Option, denn, da ist André Balling, Russland Korrespondent des Handelsblattes, Recht zu geben: Die „Krim […] ist für den Kreml kein Verhandlungsgegenstand mehr“.
    Muss deshalb aber jeder Fortschritt im Verhältnis zu Moskau blockiert bleiben? Verfügt der Westen nicht mehr über seinen schon des Öfteren geübten Pragmatismus? Der ihn im Falle der Okkupation Nordzyperns durch das NATO-Mitglied Türkei 1974 bald zur Tagesordnung übergehen ließ. Duldung bedeutet völkerrechtlich ja keineswegs Anerkennung und müsste sich im Übrigen auch nicht gleich wieder auf 42 Jahre ohne absehbares Ende summieren.

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Nichts Neues auch vom „Sturmgeschütz der Demokratie“. Seit dem offenen Ausbruch des Ukraine-Konflikts gehört Der Spiegel zu den Leitmedien, die das neue alte Feindbild Russland am grellsten kolorieren. Das Magazin hatte mit seinem Cover der Ausgabe 31/2014, auf dem der Slogan „Stoppt Putin jetzt!“ mit Fotos von Opfern des Unglücksfluges MH17 umrahmt war, geradezu eine Ikone des seither gängigen, mehr oder weniger hysterischen Russland- und in Sonderheit Putin-Bashings geliefert. Dagegen waren die in der Ausgabe 1/2016 nachgelegten Kohlen vergleichsweise Pillepalle. „Wird Putin weitere Länder besetzen?“, wurde da gefragt. Dass er noch nicht ein einziges „besetzt“ hat – geschenkt, denn bei den Russen weiß man ja bekanntlich nie …
Und der Moskau- wie Kiew-Spezialist des Blattes, Christian Neef, stellte die Frage: „Sollen wir uns weiter für die Ukraine engagieren?“, um sie folgendermaßen zu beantworten: „Der Ukraine den Rücken zuzukehren heißt, Wladimir Putin freie Hand zu geben und ihm ein Land als Spielfeld für seine pubertäre Machtpolitik zu überlassen, das unmittelbarer Teil Europas ist. […] Deswegen müssen wir mithelfen, dass die Ukraine den schwierigen Weg nach Europa schafft.“
Ein anschauliches Beispiel für die im Westen überwiegend anzutreffende Denkungsart, Europa zu sagen, wenn von der EU die Rede ist, und Russland damit aus dem territorialen und insbesondere politischen Bestand des Kontinents zu relegieren. Diese Denkungsart kann nicht Teil der Lösung des Konflikts mit Moskau sein, denn sie hat ihn in nicht unerheblichem Maße mit herbeigeführt.
Apropos Putin-Bashing. Dazu fasste Erhard Eppler in der Süddeutschen Zeitung zusammen: „Derselbe Wladimir Putin, der im Deutschen Bundestag den Deutschen die Kooperation angeboten hatte, wurde zum abgründig Bösen. Aber dieser Bösewicht überhörte einfach, dass die ukrainischen Separatisten ihm den Anschluss ihrer Provinzen an Russland anboten. Und er überhörte, wie oft aus Kiew verlautete, die Ukraine befinde sich im Krieg mit Russland. Offenbar vertraute Arsenij Jazenjuk, immerhin Ministerpräsident, darauf, dass dieser Bösewicht daraus nicht den Schluss zog, er müsse nach Kiew marschieren, um den Krieg zu beenden. Wahrscheinlich wusste der Bösewicht, der ja auch ein Schachspieler ist, dass sich im 21. Jahrhundert kein Volk auf Dauer von einem verhassten Besatzer regieren lässt.“
So weit, so beruhigend. Und das umso mehr, wenn man zum Beispiel Medienberichte darüber ignoriert, dass derselbe russische Präsident den kriminellen ehemaligen FIFA-Chef Joseph Blatter wiederholt, also ernsthaft, für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen hat und über den US-Hassprediger Donald Trump gesagt haben soll: „Er ist ein wirklich brillanter Mann und ohne Zweifel sehr talentiert.“