19. Jahrgang | Nummer 3 | 1. Februar 2016

Vierzig Jahre KSZE/OSZE – eine wechselvolle Geschichte

von Wolfgang Kubiczek

Vor vierzig Jahren, im August 1975, unterzeichneten die fünfunddreißig Teilnehmerstaaten der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki ein einmaliges Dokument: die KSZE-Schlussakte. Die Unterzeichner setzten einen Prozess in Gang, der die turbulente europäische Politik in den nachfolgenden vierzig Jahren mit unterschiedlicher Intensität prägte. Höhepunkt ihres politischen Einflusses war die Zeit der Beendigung des kalten Krieges Anfang der 1990er Jahre. Zehn Jahre später begann die nunmehr als OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) firmierende Organisation, zusehends an Einfluss und Bedeutung zu verlieren. Auch das Blättchen sah sich bereits zu der rhetorischen Frage veranlasst, ob die OSZE eigentlich noch lebt.

Die KSZE-Schlussakte von Helsinki

Wie kam es zur KSZE-Schlussakte? Verkürzt kann man sagen, sie war die Quintessenz eines Entspannungsprozesses zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion und der von ihnen dominierten Militärblöcke in Europa. Ereignisse wie der Bau der Berliner Mauer und die Kuba-Krise 1962, die die Welt an den Rand einer Nuklearkatastrophe geführt hatte, zwangen die Regierenden beider Seiten zu der Erkenntnis, dass ein gewisser Grad an Verständigung notwendig ist, um einen globalen Kernwaffenkrieg zu verhindern.
1969 reagierte die NATO erstmals positiv auf den seit den fünfziger Jahren von der Sowjetunion vorgetragenen Vorschlag zur Einberufung einer gesamteuropäischen Konferenz, und zwar unter der Bedingung einer gleichberechtigten Teilnahme der USA und Kanadas. Außerdem forderte die NATO die Ausweitung einer möglichen Agenda der Konferenz auf Fragen der konventionellen Rüstungen in Mitteleuropa, auf mehr militärische Transparenz sowie auf die Einbeziehung ökologischer und humanitärer Aspekte. Schließlich schufen die Anerkennung des Nachkriegs-Status quo durch die Bundesrepublik im Zuge der neuen Ostpolitik der Brandt-Regierung durch die Verträge mit der UdSSR, Polen und der DDR (1970 bis 1973) und später der ČSSR, die Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO und die diplomatische Anerkennung der DDR durch die Westmächte weitere Voraussetzungen für das Gelingen einer solchen Konferenz. Die KSZE-Schlussakte wurde schließlich in einem dreistufigen Verhandlungsprozess von November 1972 bis Juli 1975 erarbeitet.
Die beiden Blöcke verfolgten allerdings diametral entgegengesetzte Ziele. Der Sowjetunion ging es um die Festschreibung des „Status quo“ und damit ihres Machtbereiches in Osteuropa und als zentrales Element dabei um die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen. Der Westen strebte militärisch eine Reduzierung der sowjetischen Übermacht an konventionellen Streitkräften in Mitteleuropa und mehr Einblick in die militärischen Planungen des Warschauer Paktes an. Politisch verfolgte er das Ziel, Einfluss auf die innenpolitische Entwicklung in Osteuropa zu bekommen und damit die Entstehung oppositioneller Gruppierungen zu fördern.
Eine Besonderheit der KSZE-Schlussakte bestand darin, dass erstmals einem bedeutenden internationalen Dokument ein umfassender sicherheitspolitischer Ansatz zugrunde lag: die Anerkennung der Interdependenz von politisch-militärischen, ökonomisch-ökologischen und humanitären Aspekten der Sicherheit. Dieser Ansatz fand seinen Ausdruck in den drei Hauptteilen des Dokuments, verhandlungstechnisch als „Körbe“ bezeichnet.
Die Ambivalenz der KSZE-Schlussakte zeigt sich allerdings vor allem im Prinzipienkatalog, dem Dekalog, zu dessen Einhaltung sich die Unterzeichnerstaaten verpflichteten. Er enthält Prinzipien, die von beiden Blöcken jeweils präferiert wurden, ohne deren Verhältnis zueinander zu klären. So postuliert das erste Prinzip – „Souveräne Gleichheit“ – das Recht jedes Teilnehmerstaates, seine Gesetze und Verordnungen selbst zu bestimmen, bestärkt durch das Prinzip sechs – „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“. Daneben verlangt das siebente Prinzip die Anerkennung der universellen Bedeutung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und den Willen der Teilnehmerstaaten, deren Achtung einzeln oder gemeinsam zu fördern. Da die bürgerlichen Grundfreiheiten in ihrer Mehrheit höchstens theoretisch zur Staatsdoktrin der osteuropäischen Länder gehörten, musste deren „Förderung“ von außen zwangsläufig auf eine Verletzung des Prinzips der Nichteinmischung hinauslaufen.
Heute wird in Russland Kritik, allerdings nicht regierungsoffiziell, an der Schlussakte geäußert. Igor Maksimytschew, Mitarbeiter im Moskauer Europa-Institut und ehemaliger Gesandter in der sowjetischen Botschaft in Berlin von 1987 bis 1992, stellt in einem Beitrag für die Zeitschrift des russischen Außenministeriums der damaligen sowjetischen Diplomatie ein vernichtendes Urteil aus. Die Schlussakte, argumentiert er, habe sich als „Konzentrat aller vorherigen Fehlkalkulationen“ der sowjetischen Diplomatie erwiesen, deren Folgen zwar unter dem strengen Regime von Andrej Gromyko unter Kontrolle gehalten werden konnten, die aber unter der erneuerten sowjetischen Führung (gemeint ist die Gorbatschow-Zeit) und deren außenpolitischen Experimente voll ans Licht kamen.
Für die UdSSR, so Maksimytschew, hatte das dritte Prinzip des Dekalogs – „Unverletzlichkeit der Grenzen“ – ausschlaggebende Bedeutung. Nach Meinung der sowjetischen Diplomatie sollte das den Schlusspunkt unter die Frage der Grenzen in Europa setzen. Allerdings fand sich in der Ausformulierung des ersten Prinzips – „Souveräne Gleichheit“ – der Satz: „Sie sind der Auffassung, dass ihre Grenzen, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht durch friedliche Mittel und durch Vereinbarung verändert werden können.“ Diese Möglichkeit einer Veränderung bestehender Grenzen, resümiert der Autor, habe es bis Helsinki in keinem einzigen der von der UdSSR abgeschlossenen Verträge gegeben. Die unzweideutige Feststellung über die Veränderbarkeit bestehender Grenzen habe die Verpflichtung zu deren Unverletzlichkeit völlig entwertet. Folglich sei die Zukunft der Grenzen in Europa einzig und allein vom bestehenden Kräfteverhältnis abhängig gemacht worden. Damit seien die Angliederung der DDR an die BRD, der Zerfall Jugoslawiens und die Desintegration der UdSSR in der Schlussakte bereits wie das Küken im Ei enthalten gewesen.
Derartige Äußerungen über die KSZE-Schlussakte sind Ausdruck der Verbitterung eines Großteils der russisch-sowjetischen Elite darüber, wie sich Europa nach dem zweiten Weltkrieg entwickelt hat und wie der russische Einfluss sukzessive zurückgedrängt wurde. Dabei wird die Weigerung des Westens, Russland nach dem Ende des kalten Krieges eine gleichberechtigte Rolle in den europäischen Angelegenheiten zuzubilligen, als besondere Erniedrigung empfunden. Das neue machtpolitische Selbstbewusstsein Russlands, die Bereitschaft zum Einsatz militärischer oder quasimilitärischer Machtinstrumente, entspringen den Lehren, die man meint, aus dieser Entwicklung ziehen zu müssen: gemeinsame, kooperative Sicherheit ist eine Illusion, was zählt sind militärische Stärke und ihr skrupelloser Einsatz im eigenen Interesse. Eine beunruhigende Entwicklung.
Die Ambivalenz vieler Formulierungen in der Schlussakte ändert nichts an ihrer Bedeutung als Meilenstein in den Ost-West-Beziehungen, als Ausdruck von Kompromissbereitschaft und Vernunft in der internationalen Politik, etwas, was dem heutigen Europa gut tun würde. Dazu gehört auch, dass erstmals in einem internationalen Dokument die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten als „ein wesentlicher Faktor für den Frieden, die Gerechtigkeit und das Wohlergehen“ anerkannt wurde.
Die Schlussakte war kein völkerrechtlich bindendes Dokument, sondern eine politische Verpflichtung, allerdings mit gravierenden Auswirkungen für die europäische Entwicklung. So hatten sich die Teilnehmerstaaten beispielsweise verpflichtet, das Dokument in ihren jeweiligen Ländern im Wortlaut zu veröffentlichen. Auf seinen Inhalt, veröffentlicht im Neuen Deutschland, Zentralorgan der SED, beriefen sich später oppositionelle Gruppierungen in der DDR mit Forderungen wie der nach freien Wahlen, Presse- und Redefreiheit, Reisefreiheit. Ähnliche Prozesse vollzogen sich auch in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern („Charta 77“ in der ČSSR, „Solidarność“ in Polen). Unterm Strich ging die Rechnung des Westens mit der KSZE auf, nicht aber die der sowjetischen Führung.
Mit den politischen Veränderungen in Osteuropa war Ende der 1980er Jahre die Rolle der KSZE als Instrument des Interessenausgleichs zwischen den antagonistischen Blöcken überflüssig geworden. Es stellte sich die Frage nach ihrer weiteren Existenz und ihren Aufgaben in einem drastisch gewandelten sicherheitspolitischen Umfeld. In der Euphorie des Wandels gewann die These an Zulauf, die KSZE zum „Motor einer gesamteuropäischen Friedensordnung“ zu machen (Bundeskanzler Kohl auf dem Pariser Gipfeltreffen der KSZE 1990), was der Gorbatschowschen Idee eines „gemeinsamen europäischen Hauses“ entsprach und der Sowjetunion die Zustimmung zur Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in NATO und EU erleichterte.

Die Charta von Paris

Der neue sicherheitspolitische Ansatz fand sich in der „Charta von Paris für ein neues Europa“ vom 21. November 1990. Danach sollten Voraussetzungen für ein gesamteuropäisches System der kollektiven Sicherheit mit dem institutionellen Zentrum KSZE geschaffen werden. Das wäre einer enormen Aufwertung der KSZE gleichgekommen. Merkmale der alten KSZE – wie die drei Themenkörbe, das Konsensprinzip, der territoriale Einzugsbereich, die Verabschiedung nur politisch aber nicht völkerrechtlich bindender Beschlüsse – wurden beibehalten und durch neue Elemente wie Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie Schaffung von permanenten KSZE-Institutionen ergänzt. Es entstanden Entscheidungsgremien wie der Rat der Außenminister sowie als unterstützende Institutionen das Konfliktverhütungszentrum, das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR) sowie ein ständiges Sekretariat. So verstetigte sich die Tätigkeit der KSZE, die zuvor lediglich ein Prozess loser aufeinanderfolgender Konferenzen gewesen war.
Rüstungskontrollpolitisch untermauert wurde dieser neue Ansatz mit dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag), der als „Pfeiler einer künftigen europäischen Sicherheitsarchitektur“ galt und eine erhebliche Reduzierung und Verschrottung konventioneller Rüstungsgüter zur Folge hatte. Parallel dazu dienten das Wiener Dokument über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen (VSBM) von 1990 und der Vertrag über den offenen Himmel von 1992 der gegenseitigen militärischen Transparenz und Vertrauensbildung. Die beiden letzten Vereinbarungen sind heute noch in Kraft.

Die KSZE wird OSZE

Die KSZE-Teilnehmerstaaten verabredeten, nach 1990 in regelmäßigen Zweijahresabständen Gipfelkonferenzen abzuhalten, auf denen die Fortschritte bei der Umsetzung der „Charta von Paris“ eingeschätzt und weitergehende Maßnahmen beschlossen werden sollten. Dieser Gipfel-Rhythmus wurde in den 1990er Jahren weitgehend eingehalten. Der KSZE-Gipfel 1992 in Helsinki richtete zusätzlich die Institution eines Hohen Kommissars für Nationale Minderheiten (HKNM) ein, 1997 wurde das Büro des Beauftragten für Medienfreiheit gebildet.
Auf dem Budapester Gipfel von 1994 schließlich wurde die KSZE von einer „Konferenz“ zu einer „Organisation“, der OSZE, umbenannt, was aber keine weiteren Veränderungen in ihren juristischen Grundlagen, den Strukturen und Tätigkeitsmerkmalen nach sich zog. Letzteres entsprach vor allem dem Bestreben der USA, der OSZE den Status einer vollwertigen internationalen Organisation und damit die Völkerrechtssubjektivität zu verweigern, eine Politik, die sich bis zum heutigen Tage nicht grundsätzlich geändert hat. Das offensichtliche Ziel dieser Haltung ist es, keine gesamteuropäische Organisation der kollektiven Sicherheit als Alternative zur NATO zuzulassen, die Dominanz des Westens in europäischen Angelegenheiten zu sichern sowie Russland ein Mitspracherecht zu verweigern.
Der Istanbuler Gipfel von 1999 war der letzte Höhepunkt der OSZE-Gipfeldiplomatie mit realen Ergebnissen. Von herausragender Bedeutung war dabei die Unterzeichnung des Angepassten Vertrages über Konventionelle Streitkräfte in Europa (A-KSE), der den noch unter Blockbedingungen unterzeichneten KSE-Vertrag auf die neuen Verhältnisse einstellte. Der A-KSE sowie eine Europäische Sicherheitscharta, die Weiterentwicklung des Wiener Dokuments und einige andere Beschlüsse kamen noch zustande, obwohl sich die großpolitische Wetterlage im Ergebnis der völkerrechtswidrigen Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO und die erste Osterweiterung des Militärbündnisses um Polen, Tschechien und Ungarn nachhaltig verschlechtert hatte.

Die OSZE verliert an Bedeutung

Der nächste OSZE-Gipfel konnte erst elf Jahre später einberufen werden, was vom Bedeutungsverlust der OSZE für die gesamteuropäische Sicherheitspolitik zeugt. Die Ursachen lagen im sich verstärkenden Interessenkonflikt zwischen Russland und dem Westen, aber auch in der zunehmenden Verdrängung der OSZE durch konkurrierende Organisationen.
Die eklatante Missachtung russischer Sicherheitsinteressen durch die NATO wurde auch auf die Beschlüsse des Istanbuler OSZE-Gipfels ausgedehnt, indem der Westen die Ratifizierung des A-KSE-Vertrages mittels Kopplung an politische Bedingungen, die außerhalb des Vertragssystems lagen, verweigerte. Im Ergebnis scheiterte das Rüstungskontrollabkommen. Ein Grundpfeiler europäischer Sicherheit wurde zerstört.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt verlor Russland die Illusion, gleichberechtigt an einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem mitwirken zu können. Die OSZE wurde in Moskau als eine vom Westen dominierte und im Interesse westlicher Politik instrumentalisierte Einrichtung wahrgenommen. Der hehre Anspruch, ein kooperatives Sicherheitssystem von Vancouver bis Wladiwostok zu errichten, wurde durch Aktivitäten zum Export des westlichen Gesellschaftsmodells in Länder der ehemaligen Sowjetunion und Jugoslawiens ersetzt.
Die Bereitschaft, 2010 in Astana (Kasachstan) wieder zu einem Gipfel zusammenzukommen, ließ die Hoffnung nach einer Rückkehr der OSZE ins Zentrum der europäischen Politik erneut aufkeimen. Dies umso mehr, als in den zweieinhalb Jahren zuvor die OSZE-Staaten erstmals wieder einen sicherheitspolitischen Dialog, den „Korfu Prozess“, aufgenommen hatten, zu dessen Auslösern der russische Vorschlag eines „Vertrages über europäische Sicherheit“ gehörte. Und schließlich hatte sich die OSZE, die traditionell mit beeindruckenden Formulierungen nicht geizt, für den Astana-Gipfel das Ziel vorgenommen, eine Vision für eine „euroatlantische und eurasische Sicherheitsgemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok“ zu entwerfen. In der „Gedenkerklärung von Astana“ bekannte man sich zwar zu dieser grandiosen Vision, allerdings konnte der angestrebte gemeinsame Aktionsplan aufgrund von Meinungsverschiedenheiten nicht verabschiedet werden. Es blieb bei einer großartigen These, der keine nennenswerten Taten folgten. Der Gipfel von Astana war eher Ausdruck der Krise der OSZE und der gesamteuropäischen Sicherheitslage, als dass er zu ihrer Überwindung beigetragen hätte.

Ist die OSZE im Europa des 21. Jahrhunderts ein Auslaufmodell?

Nein. Sie ist das einzig verbliebene Gremium für einen sicherheitspolitischen Dialog, dem alle Schwergewichte der europäischen Politik – Russland, die USA und die EU-Mitgliedsstaaten – angehören. Auch wenn die großen Entwürfe lediglich als Absichtserklärungen auf dem Papier bleiben, zeigt gerade die Ukraine-Krise, dass unter Bedingungen der offenen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen die OSZE aufgrund des Konsens-Prinzips das einzige Gremium zum Konfliktmanagement bleibt, auf das sich beide Seiten einigen können. Es ist nicht zuletzt dem Schweizer OSZE-Vorsitz 2014 zu verdanken, wenn sich Kiew, Moskau und die ostukrainischen Aufständischen auf einen Dialog (die Trilaterale Kontaktgruppe) einließen, der regelmäßig geführt wird. Die Vorarbeit der OSZE hat letztlich auch die Waffenstillstandsabkommen Minsk 1 und 2 befördert, die zu der heute bestehenden brüchigen Waffenruhe geführt haben.
Die Möglichkeiten und Grenzen der OSZE werden nicht zuletzt an der Tätigkeit ihrer seit März 2014 in der Ukraine eingesetzten Beobachtermission (SMM) deutlich. Diese ist mit über sechshundert Beobachtern aus mehr als vierzig OSZE-Staaten, einschließlich Russland und den USA, sowie mit ukrainischem Personal und einem Jahresetat von annähernd 90 Millionen Euro ausgestattet. Die Mission hat ein Mandat bis 31. März 2016 mit der Option zur weiteren Verlängerung. Es sind unbewaffnete Beobachter mit militärischem Hintergrund, die in der gesamten Ukraine eingesetzt werden, davon etwa vierhundert in der Ostukraine. Sie sammeln Informationen über Waffenstillstandsverletzungen, den Rückzug schwerer Waffen hinter die vereinbarten Rückzugslinien, den Gefangenenaustausch, schätzen die Sicherheitslage und die humanitäre Situation ein. Sie führen, wie OSZE-Generalsekretär Lamberto Zannier es bezeichnet, eine „quasi friedenserhaltende Operation“ aus. Sie unterstützen humanitäre Aktionen für die lokale Bevölkerung, gewähren jedoch selbst keine humanitäre Hilfe und greifen nicht aktiv in den Konflikt ein. Die Beobachter gehen oft ein hohes persönliches Risiko für Leib und Leben ein, haben jedoch keine Mittel des Selbstschutzes. Neuland hat die OSZE allerdings mit dem Einsatz von unbewaffneten Überwachungsdrohnen betreten.
Unabhängig von der SMM ist an zwei Grenzkontrollposten an der ukrainisch-russischen Grenze auf russischer Seite eine Beobachtermission (OM) der OSZE mit fünfzehn Beobachtern tätig – auf Einladung Russlands und mit Zustimmung aller OSZE-Teilnehmerstaaten. Die Mission sammelt Informationen über die Sicherheitssituation sowie über den grenzüberschreitenden Verkehr. Ihr Mandat lief bis 31. Januar 2016 und kann verlängert werden. Einer Ausdehnung der Kontrollen auf weitere Grenzübergangsstellen hat Russland nicht zugestimmt.
Die Beobachtertätigkeit im Ukraine-Konflikt hat der OSZE zwar international Beachtung erworben, aber nicht viel an ihrer insgesamt desolaten Situation geändert. Davon zeugt der Verlauf der jüngsten Tagung des Rates der Außenminister der OSZE in Belgrad (Anfang Dezember 2015). Es gelang den Teilnehmerstaaten zum wiederholten Male nicht, eine gemeinsame politische Erklärung zu unterzeichnen. Es wurden lediglich einige allgemeine Absichtserklärungen zu transnationalen Problemen verabschiedet, wie Bekämpfung von Terrorismus, Extremismus und Drogenmissbrauch. In osteuropäischen Staaten (wie der Ukraine) werden zusehends Stimmen laut, die nach dem Sinn der OSZE fragen; die NATO sei doch völlig ausreichend.
In dieser kritischen Situation hat Deutschland am Jahresanfang den Vorsitz der OSZE übernommen. Am 14. Januar hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der die Organisation ein Jahr als amtierender Vorsitzender führt, die Einzelheiten seines Programms den 57 Teilnehmerstaaten in Wien vorgestellt. Bereits im Vorfeld hat der Außenminister erklärt, Deutschland wolle die OSZE und ihre Tradition eines gleichberechtigten Dialogs stärken, um verloren gegangenes Vertrauen wieder aufzubauen. „Es darf uns miteinander nicht genug sein“, so Steinmeier in seiner programmatischen Rede in Wien, „die Vergangenheit einer geschichtsträchtigen Organisation zu verwalten. Wir müssen unsere OSZE nutzen, hier und heute, um eine Zukunft zu schaffen, in der Krieg und Gewalt in Europa wieder undenkbar werden.“ Das ist ein ambitioniertes Vorhaben, das schon durch den Verzicht auf Sanktionen gegen Russland befördert werden könnte.

Die Perspektive

Es ist eine Binsenweisheit, dass eine internationale Organisation, der das Konsensprinzip zugrunde liegt, immer nur so effektiv handeln kann, wie es die Politik seiner einzelnen Teilnehmer zulässt. Für die OSZE ist es in erster Linie das Verhältnis zwischen dem Westen, präziser der NATO, und Russland, von dem ihr Schicksal weitgehend bestimmt wird. Obwohl Europa nicht geteilt ist wie zu Zeiten des kalten Krieges, ist die Situation unsicherer und prekärer als zuvor. Geopolitik, Geostrategie und der Kampf um Absatzmärkte sind, gern kaschiert durch Erzählungen über den Schutz von Menschenrechten oder nationalen Minderheiten, die gängigen Leitideen für Politik in Europa geworden. Erstmals seit dem zweiten Weltkrieg hat sich ein Land Territorium eines Nachbarlandes angeeignet. Es gibt im Unterschied zur Zeit der Unterzeichnung der Helsinki-Schlussakte von 1975 keinen allgemein akzeptierten Status quo in Europa (Kosovo, Berg-Karabach, Krim).
Es ist aber nicht nur der Konflikt Russland-Westen, der Europas Sicherheit beeinträchtigt. Der US-amerikanische Politologe George Friedmann diagnostizierte Anfang 2015 drei Triebkräfte, die auch die EU destabilisieren, und lag damit wohl richtig: der zunehmende Wunsch nach Grenzkontrollen, das Wiedererstarken der Nationalstaaten und die unter den Füßen der EU zerbröckelnde politische Basis. Seine Schlussfolgerung: Die Frage ist nicht, ob Europa (gemeint ist die EU) in seiner jetzigen Form weiter bestehen bleibt, sondern wie radikal es sich verändern und ob es zu einer Rückkehr des Nationalismus kommen wird. Die wichtigste Frage sei, ob Kriege und Konflikte ein für alle Mal gebannt sind oder ob wir uns nur in einem Zwischenstadium befinden.
Egal, was man von Friedmann hält, die Aussage, dass die EU ein bröckelnder Stabilitätspfeiler in Europa ist, hat sich im vergangenen Jahr mehr als bestätigt.
Es sind diese Rahmenbedingungen, die das Schicksal der OSZE bestimmen werden. Die OSZE selbst hat ein „Panel of Eminent Persons“ unter Vorsitz des deutschen Ex-Botschafters Wolfgang Ischinger mit dem Ziel eingesetzt, Empfehlungen für die weitere Tätigkeit der Organisation zu erarbeiten. Ihr Abschlussbericht empfiehlt als dringlichstes Problem Maßnahmen zur Reduzierung des Risikos von militärischen Zwischenfällen. Allein das dies notwendig ist, zeugt von der abnormen Sicherheitslage in Europa. So sehen es auch die eminenten Personen. Zu diesem Zweck sollen der NATO-Russland-Rat wieder aktiviert und Kontakte zwischen den Militärführungen beider Seiten hergestellt werden. Der Bericht enthält auch Empfehlungen zur Ukraine-Konflikt und kommt dabei zu der These: „Inzwischen hat die illegale Annexion der Krim die Idee der kooperativen Sicherheit in Europa substantiell untergraben. Solange man sich damit nicht befasst, kann man sich eine Rückkehr zur europäischen Sicherheit als Gemeinschaftsprojekt nur schwer vorstellen.“ Egal, wie man zur politischen und rechtlichen Beurteilung der Krim-Frage steht, sie ist ein geradezu unüberwindliches Hindernis für kooperative Sicherheitsbemühungen in Europa. (Das nicht bereits der Jugoslawienkrieg und die Kosovofrage zu einer ähnlichen Situation geführt haben, dürfte auch daran liegen, dass Russland die Möglichkeiten zu einer vergleichbaren Politik gegenüber dem Westen fehlten, wie dieser sie gegenüber Moskau seit Ausbruch des Ukraine-Konflikts führt.) Russland jedenfalls wird es unter keinen Umständen zulassen, über sein – aus seiner Sicht – rechtmäßiges Territorium zu verhandeln. Die gleiche Position beziehen die Ukraine und ihre Unterstützer.
An diesem Problem dürfte auch der vermeintlich unverfängliche Vorschlag scheitern, die zehn Prinzipien der KSZE-Schlussakte von Helsinki erneut zu bestätigen, ein Vorschlag, der im Zusammenhang mit ihrem 40.Jahrestag oft genannt wurde. Denn Prinzip drei – „Unverletzlichkeit der Grenzen“ – verlangt, dass alle Teilnehmerstaaten ihre Grenzen sowie die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich betrachten. Ebenso wie beim Prinzip vier – „Territoriale Integrität“ – stellt sich bei der Krim die Frage: welche Grenzen, wessen Territorium?
Was kann die OSZE neben ihrem Ukraine-Einsatz auf sicherheitspolitischem Gebiet noch leisten? Sie kann den Versuch unternehmen, ein wenig Misstrauen abzubauen und gemeinsame Positionen zu Fragen zu entwickeln, bei denen es eine Interessennähe gibt, zum Beispiel Terrorismusbekämpfung, Kooperation bei der Bekämpfung des Drogenmissbrauchs, also bei so genannten transnationalen Problemen. Große Entwürfe werden in der OSZE auch in überschaubarer Zukunft nicht realisiert werden. Aber der Erhalt der Organisation ist schon ein Ziel an sich. Der deutsche Vorsitz in diesem Jahr hat ein dickes Brett zu bohren.