von Frank Ufen
Als der Biologe Josef Reichholf im Jahre 1970 eine Expedition in die brasilianischen Tropen unternahm, riet man ihm, einen großen Bogen um Lanzenottern und Klapperschlangen zu machen. Beide Schlangenarten sind für Menschen hochgiftig. Doch warum, fragt Reichholf, schlägt die Lanzenotter ohne zu fackeln zu, wenn sie sich bedroht fühlt, wohingegen die mit ihr ziemlich eng verwandte Klapperschlange Rasselgeräusche erzeugt, um davor zu warnen, ihr zu nahe zu kommen? Weil das Rasseln – erklärt Reichholf – ursprünglich ein Warnsignal gewesen ist, das dazu diente, Pferde abzuwehren. Denn in Nordamerika, wo die Evolution des Pferdes begann, kam es ständig vor, dass Pferde in den Lebensraum der Klapperschlangen eindrangen, die dann Gefahr liefen, von Hufschlägen getroffen oder zertrampelt zu werden. Dieser Zusammenhang erklärt im Übrigen auch, warum das Serum gegen das Gift dieser Schlangen aus Antikörpern hergestellt wird, die sich im Pferdekörper bilden.
Die Pferde starben schließlich in Nord- und Südamerika aus. Doch ihre Abkömmlinge wanderten über die Beringstraße nach Nordostasien aus, breiteten sich dann im asiatischen und europäischen Raum immer weiter aus und gelangten auch nach Afrika, wo sie sich in die Zebras verwandelten.
Apropos Zebras. Seit einiger Zeit ist geklärt, warum die Evolution ihnen ein schwarz-weiß gestreiftes Fell verpasst hat: Es schützt sie davor, von blutsaugenden Tsetsefliegen heimgesucht zu werden. Deren Facettenaugen können nämlich nur sich bewegende dunkle Silhouetten, die sich deutlich gegen einen hellen Hintergrund abheben, erfassen. Doch warum – fragt Reichholf – haben sich nicht auch andere Säugetiere der ostafrikanischen Savannen wie Gnus, Antilopen, Gazellen oder Löwen ein solches Streifenmuster zugelegt, und warum fehlt es dem Homo sapiens und seinen unmittelbaren Vorfahren? Weil allein Zebras und Menschen gegen die von der Tsetsefliege übertragenen Trypanosomen nicht immun sind. Laut Reichholf hängt das mit dem Umstand zusammen, dass Menschen und Pferde exzellente Läufer sind. Hierfür sind sie mit einer Milz ausgerüstet, die die Funktion hat, Blut zu speichern. Außerdem haben sie gemeinsam, dass sie ihren Körper durch Schwitzen sehr effizient kühlen können. Dass Menschen und Pferde dazu bestimmt seien, ständig lange Strecken schnell zurückzulegen, brächte allerdings den Nachteil mit sich, dass ihr Immunsystem zur Bekämpfung von Krankheitserregern relativ wenig Zeit zur Verfügung stünde.
Doch anders als die Zebras kann sich der Mensch kein gestreiftes Fell zulegen, weil er den Großteil seiner Behaarung frühzeitig eingebüßt und sich in den „nackten Affen“ verwandelt hat. Doch die Frühmenschen und Menschen fanden einen Ausweg. Sie wurden zu „saisonalen Nomaden“ und wichen mit ihren schnellen Beinen immer wieder den Tsetsefliegen aus, und wenn auch das nicht half, wanderten sie in andere Kontinente aus. Reichholfs Überlegungen, die sich auf intensive Feldforschungen in Ostafrika stützen, münden in eine verblüffende These: Was die Evolution der menschlichen Spezies vorangetrieben hat, sind neben klimatischen Schwankungen und Veränderungen insbesondere die Tsetsefliegen – und sie sind vermutlich auch dafür verantwortlich, dass eine ganze Reihe von Hominidenarten entstanden sind.
Als Reichholf sich im zentralamazonischen Regenwald aufhielt, benutzte er regelmäßig Flusswasser, um sich die Zähne zu putzen. Doch bald darauf stellte er an ihnen Spalten und Löcher fest. Schuld daran war das kristallklare Wasser, das überhaupt kein Kalzium enthielt und es aus den Zähnen herauslöste. Reichholf erkannte schließlich, dass fast sämtliche Gewässer in Südamerika extrem arm an Mineral- und Nährstoffen sind, und dass das genauso für die Böden dort gilt. Dass dieser Dünger fehlt, ist darauf zurückzuführen, dass es in Südamerika außer in den Anden keine Vulkane gibt, die solche Stoffe liefern könnten.
Die zentralamazonischen Regenwälder wachsen auf einer kaum mehr als einige Zentimeter dicken Humusschicht, unter der sich nichts als Sand oder Karolinit befindet. Doch warum bringen ausgerechnet die äußerst kargen Lebensräume der südamerikanischen Tropenwelt eine ungeheure Vielfalt an Pflanzen- und Tierarten hervor? Reichholf ist der Sache am Ende auf den Grund gekommen: Weil solche prekären Lebensverhältnisse verhindern, dass sich einige wenige Arten auf Kosten vieler anderer durchsetzen. Allerdings sind die meisten Tierarten selten oder extrem selten, und auf 1.000 Tonnen pflanzliche Biomasse kommen Tiere mit einem Gesamtgewicht von allenfalls 180 Kilogramm, wovon ungefähr die Hälfte Termiten und Ameisen sind.
Josef Reichholf hat im Verlauf von fünf Jahrzehnten etliche Forschungsreisen unternommen, die ihn in fast sämtliche Regionen der Erde geführt haben. In seinem neuesten Buch beschreibt er ausführlich, welche Erfahrungen er dabei gemacht hat und zu welchen bahnbrechenden Einsichten er dadurch gekommen ist. Eine exzellente intellektuelle Autobiografie, die mit einer überbordenden Fülle von Beobachtungen und Erkenntnissen aufwartet – und die nach allen Regeln der Kunst die irrtümlichen Annahmen auseinandernimmt, von denen sich der Großteil der Naturschützer nach wie vor leiten lässt. Ein Personen- und Sachregister hätten dem Buch allerdings gutgetan.
Josef H. Reichholf: Mein Leben für die Natur. Auf den Spuren von Evolution und Ökologie, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2015, 638 Seiten, 26,99 Euro.
Schlagwörter: Evolution, Frank Ufen, Josef Reichholf, Natur, Ökologie