von Herbert Bertsch
Klugen Leuten ziemt es,
zunächst das Ende eines Unternehmens
ins Auge zu fassen
und es erst dann also ins Werk zu setzen.
Aesop
„Nächstes Jahr spricht sie arabisch, und die Untertitel sind deutsch“ weissagte Vera Lengsfeld auf Facebook am 30. Dezember 2015 nach Ausstrahlung der Neujahrsansprache von Kanzlerin Merkel im ZDF mit arabischen Untertiteln. Launig empfahl Frauke Petry der Kanzlerin kürzlich schon mal den Rücktritt in hoffnungsvoller Gewissheit: „Sie schaffen das.“
Die Kanzlerin ihrerseits rückte wiederum von ihrer Selbstverpflichtung für uns alle, „das“ zu schaffen, kein Jota ab. Ihr Innen- und damit zugleich Verfassungsminister hatte – wie fast täglich – eine unterstützende Idee parat: Die Geheimdienste sollten enger kooperieren. Erste Resultate: Tipps kommen nun schon wieder aus dem Irak.
Nun stehen solcherart Ab- und Aussichten wohl nicht im Fokus der so genannten Flüchtlingskrise, also jener Entwicklung, die gleichsam amtlich zur gegenwärtig „größten Herausforderung“ unserer Gesellschaft, unseres Staates und Europas erklärt wurde. Aber auch diese Beispiele sind Ausdruck von Besorgnis, diffuser Angst und verspürter wie erkennbarer Unfähigkeit keineswegs nur der Berliner Politik, dieser Herausforderung angemessen zu begegnen. Doch begnügen wir uns hier mit unserer Staatsführung und Stichwortgebern zur historischen Fundierung ihres Handelns, Nichthandeln immanenter inklusive.
Genau vor einem Jahr hatte Wolfgang Brauer im Blättchen eine „Geschichte des Westens“ von Heinrich August Winkler vorgestellt, die letztlich etwa so ausgeht: Alles in allem und in langen historischen Wellen als deren Quintessenz war das westliche Besatzungskonstrukt „Bundesrepublik Deutschland“ ein voller Erfolg. Insbesondere durch Eigenleistung wurde die zum Kern des modernen Europa, zum Wohle der Europäer. Um die als solche zu qualifizieren, genügt offenbar das Bekenntnis zu „westlichen Werten“, deren Katechismus nach Gemüts- und Kassenlage variiert. Das hat zeitweilig auch taktische Vorteile, allerdings um einen jeweils hohen Preis. Und wenn andere Europäer und deren Staaten sich demonstrativ national gerieren, dann ist das nach dieser Lesart rückständig, jedenfalls gemessen an unserem Fortschritt.
Allerdings hat spätestens der Gang der Dinge 2015 gezeigt hat, dass EU-Europa nicht nur nicht dem von Deutschland vorgeprägten Muster entspricht, sondern dass etliche EU-Europäer offen für ihre Nationalstaaten verkünden, das Modell in seiner Brüsseler Ausformung so gar nicht gewollt zu haben und definitiv auch fürderhin nicht zu wollen. Da ist man offenbar über das eigene Taktieren ernstlich gestolpert.
Beschreiben wir die Situation also vorsichtig mit: open end, was lange zu währen vermag, aber derzeit als „mit durchaus ungewissem Ausgang“ zu qualifizieren wäre.
Man könnte darin auch ein Dilemma des prominenten Autors Heinrich August Winkler erkennen; auf jeden Fall ist es aber eins in der Sache, also jenseits vom Parteiengezänk, das die Dinge vor allem als Anspielwand gegeneinander nutzt, wie weiland die DDR.
Mein engerer Landsmann Winkler hatte in der Gedenkrede zum 08. Mai 1945 vor dem Bundestag eine Kurzfassung des von ihm herausgefundenen Weges der Deutschen, der deutschen Nation, auch deutscher Nationalstaaten „nach Westen“ als Krönung der deutschen Geschichte geliefert und sich als fortan zitierbaren Kronzeugen für diesen Befund präsentiert, von Dritten nicht nur deswegen gern auch als Nestor der deutschen Geschichtswissenschaft apostrophiert. Beides ist gewiss ehrenvoll, aber auch Hypothek, nämlich das eigene Wort ein ums andere Mal noch gewichtiger gewertet zu sehen.
In einer „Was ist deutsch?“ betitelten Serie der Süddeutschen Zeitung hat Winkler jüngst einen weiteren Beitrag pikant so betitelt: „Wer hat die Deutschen zu Richtern der Nationen bestellt?“. Darin geht es dem Autor höchst gegenwärtig vor allem um Rechte Verfolgter und um Asyl in seiner politischen wie juristischen Fassbarkeit.
Mit profunder Kenntnis und gehöriger Autorenlist schlägt Winkler da kunstvoll den Bogen von der 1160 (!) vom Staufferkaiser Barbarossa gestellten Frage nach den Deutschen als „Richtern der Nationen“ direkt bis in jene unmittelbare westdeutsche Nachkriegsgegenwart, als die Ausarbeitung des Grundgesetzes erfolgte, und teilt dazu mit: „Was der Parlamentarische Rat 1948/49 bei der Formulierung des Asylrechts vor Augen hatte, waren die Verfolgung und Vertreibung politisch oder rassisch missliebiger Deutscher unter dem Nationalsozialismus und die politische Unterdrückung in den kommunistischen Regimen der Nachkriegszeit.“
Wir lernen: Da ging es also weniger, wenn überhaupt, um „Asyl“ als einen eminent praktischen Aspekt allgemeingültiger Menschenrechte, sondern um die Nutzung als Instrument für die Auseinandersetzung mit „den kommunistischen Regimen der Nachkriegszeit“. (Es dürfte nicht zu weit hergeholt sein, dies auch als eine Weichenstellung für die wenig später einsetzenden Strategie und Politik des personellem Ausblutens zu werten, die die Bundesrepublik besonders massiv gegenüber der DDR – bis 1961 ungehindert und danach zumindest mittelbar – betrieb.)
Das ist eine bemerkenswerte Sachinformation des Forschers, allerdings unter Auslassung dieser politischen Zielstellung. Winkler braucht und gebraucht diesen Ansatz, um ein „Versäumnis“ der Gesetzgebung zu rügen: Nach dem Sieg des Westens am Ende des Kalten Krieges hätte man die uneingeschränkt formulierten politischen „Asyl“-Regelungen im Grundgesetz den veränderten deutschen Interessen, auch in europäischem Gewand, anpassen müssen; soll heißen, in der Substanz reduzieren und von jeweils aktuellen, also wandelbaren Bedingungen abhängig machen zu können. „Die Frage stellt sich nicht erst heute“, so Winkler, „ob es nicht eine ehrlichere Lösung gewesen wäre, Deutschland durch die Reform des Artikel 16 (des Grundgesetzes – H.B.) zu verpflichten, politisch Verfolgten nach Maßgabe seiner Aufnahme- und Integrationsfähigkeit, also im Rahmen des Möglichen und nach besten Kräften, Asyl zu gewähren, gleichzeitig auf die Europäisierung des Asyl- und Flüchtlingsrechts im Geist der Solidarität zu dringen und die legale Immigration, derer Deutschland aus demographischen Gründen dringend bedarf, durch ein großzügiges, modernes Einwanderungsgesetz zu erleichtern.“
Man darf gespannt sein, wie viel und was vom nach 1990 immer noch Versäumten im Kontext der aktuellen „Flüchtlingskrise“ nachgeholt werden wird.
Aber verweilen wir bei Winklers Exkurs in der Süddeutschen. Hinsichtlich der Begründung von „Vaterland Europa“ (Adenauer) bietet Winkler an: „Es ist eine Folge des exzessiven Nationalismus, dem Deutschland in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur gehuldigt hat, dass Europa für viele Deutsche nach 1945 zu einer Art Ersatzvaterland geworden ist“.
So also liest sich Adenauers knallharte Realpolitik als altersmilde Lyrik. Die Entscheidung Adenauers, dass es besser sei, wenn man weniger „Deutschland” bemühte, und an dessen Stelle eine vertraglich geregelte dauerhafte Verbindung mit Frankreich und anderen Westnachbarn setzte, nicht zuletzt mit dem Argument in Richtung Westen, damit einen entscheidenden Beitrag in der Auseinandersetzung mit „Zoffjet-Russland“ (Adenauer-Dialekt) zu leisten. Und Antikommunismus konnte man ja – noch immer und schon wieder.
Dieser Ausweg der Bonner Republik aus der Stigmatisierung Deutschlands als Kriegsauslöser und -verlierer war es, der den Kanzler eigener Gnaden (weil mit die Mehrheit bringender eigener Stimme dazu gewählt) auf die Wiederbelebung früherer bürgerlicher Europa-Ideen durch den französischen Ministerpräsidenten Robert Schumann ab 1950 positiv reagieren und ihm den Vortritt dabei ließ.
Nach Winkler aber war nicht dies treibende Absicht von Adenauers Westorientierung. Vielmehr hätte eine gleichsam schicksalhafte natürliche Konsequenz aus (Hitler)deutschen Weltherrschaftsplänen mit angeschlossener bedingungsloser Kapitulation diese Orientierung bewirkt. Nebenbei: Wenn dem so gewesen wäre, so wirklich ehrenvoll wäre diese „Durchgangsstation“ auf dem Weg nach Westen dann ja wohl auch nicht.
Die bundesdeutsche „Flucht nach Europa“, heute als Tugend vermittelt, war stets Interessenspolitik, folglich mit verschiedenen, dabei auch negativen und gegensätzlichen Folgen. Zuvörderst war dies in der Konsequenz nämlich die Absage an „das einige deutsche Volk“, an die „Wiedervereinigung“ – entgegen allem nationalen Getue und Gehabe über die Jahrzehnte hinweg. Da war Adenauer mit seiner Devise „Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze halb“, mit sich und den seinen im Reinen. Folgerichtig wies er die Stalin-Note von 1952 ebenso ungeprüft zurück wie spätere sowjetische Deutschland-Vorschläge.
Wer dazu meint, es habe sich dabei nur um Moskauer Propaganda gehandelt: Die hätte man bei Aufnahme von Verhandlungen im Zweifelsfalle substanziell „entlarven“ können. Freilich nur dann, wenn man hätte verhandeln wollen und nicht anderen Lösungen den Vorzug gegeben hätte.
Bis zu Verhandlungslösungen dauerte es bekanntlich zunächst 25 Jahre, bedurfte es anderer Umstände und auch neuer handelnder Personen. Von einem Friedensvertrag – gerechte innerdeutsche Lastenverteilung inklusive! – gar nicht erst zu reden.
Derzeit stehen die Signale für die weitere deutsche Geschichte in und mit Europa knapp auf Gelb, auch am Beispiel der deutschen Asylgesetzgebung mit ihren politischen Implikationen. Endgültig entschieden ist – wie immer in der bekanntlich offenen Geschichte – nichts, also auch keine Endstation erreicht, nicht mal auf dem deutschen „Weg nach Westen“. Und, wie es in einem inzwischen geflügelten politisch-privaten Statement heißt: Das ist auch gut so.
Schlagwörter: Adenauer, Asyl, Asylrecht, BRD, DDR, Heinrich August Winkler, Herbert Bertsch, Hitler-Deutschland, Stalin-Note, Westorientierung, Wiedervereinigung