von Erhard Crome
Ulrich Menzel, emeritierter Professor für internationale Politik an der Technischen Universität Braunschweig, hat in der ersten Nummer der Blätter für deutsche und internationale Politik eine Art Gesamtaufriss der Weltlage am Beginn dieses Jahres zu geben versucht. Der Titel lautet: „Welt am Kipppunkt. Die neue Unregierbarkeit und der Vormarsch der Anarchie“. Da Menzel sich seit Jahren mit Weltordnungsfragen befasst hat, schien er offenbar auch der Blätter-Redaktion prädestiniert, einen solchen Text zu verfertigen. Sein Opus Magnum „Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt“ erschien im vergangenen Jahr. Die mehr als zehnjährige Entstehungszeit wird als positiver Hintergrund betont: Es habe Sorgfalt und Umsicht gewaltet.
Herfried Münkler, Politikprofessor in Berlin und Deutschlands folgenreichster Bellizist, besprach Menzels Buch bereits im Juni in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und verlautbarte, der Kollege habe „ein großes Buch“ geschrieben. Vor allem ist es dick, über 1.200 Seiten, und beschreibt über 1.200 Jahre Weltgeschichte. Ausgangspunkt „ist die These, dass keineswegs die von der realistischen Schule der internationalen Beziehungen angenommene Anarchie der Staatenwelt der Normalzustand ist, von dem Abweichungen zu erklären sind, sondern dass sich im Verhältnis der Staaten zueinander immer wieder Hierarchien entwickeln lassen, die nach den Typen von Imperialität und Hegemonie zu unterscheiden sind“. Das entspricht natürlich Münklers Grundvorstellung von der ordnungspolitischen Bedeutung imperialer Strukturen. Bei Menzel wird Hegemonie als „Führung“ interpretiert, resultiere die Gefolgschaft der Untergebenen aus Freiwilligkeit, während Imperien mit Gewalt und Zwang gegenüber den Anderen gleichgesetzt werden. Hegemonie wolle die Anarchie der Staatenwelt zugunsten einer positiven Ordnung auflösen, Imperien dagegen suchten Tribut, um sich zu finanzieren und ihre Hierarchie zu festigen. Der Historiker Jürgen Zimmerer meinte in seiner Rezension: „Jenseits aller normativen Ansprüche ist das Buch eine faszinierende globalgeschichtliche Betrachtung transnationaler Beziehungen.“ Was meint der Rezensent? Dass das Buch jenseits aller normativen Ansprüche liegt oder dass es trotz derselben lesenswert ist?
Das Problem des Blätter-Textes ist – der Hintergrund in Gestalt des dicken Buches ist wichtig, um zu verstehen, was hier eigentlich unternommen wird – genau die normative Perspektive, die allenthalben durchscheint. So beginnt der Artikel so: „Die Welt wird unregierbar. Dieser seit etlichen Jahren zu konstatierende Trend ist im Verlauf des Jahres 2015 besonders manifest geworden. Die Stichworte lauten locker geordnet: EU- und Griechenlandkrise, Krieg in der Ukraine als Restauration des sowjetischen Einflussbereichs und die Rückkehr des Rüstungswettlaufs, Scheitern der militärischen Interventionen in Afghanistan, Irak, Libyen, Jemen, Syrien, Staatszerfall im Komplex Irak-Syrien, Vormarsch terroristischer Organisationen wie IS oder Boko Haram – und schließlich massive Armuts- und Kriegsflucht […].“
Hier ist alles auf den ersten Blick zutreffende Beschreibung der Verhältnisse und bei genauerem Hinsehen Halbwahrheit, die zur Lüge wird. Nehmen wir zunächst die „Stichworte“: Die EU- und Griechenlandkrise sind Ergebnis der Verfasstheit der EU beziehungsweise der Euro-Zone im Gefolge des Bestrebens, innerhalb der EU eine deutsche Hegemonie durchzusetzen. Der Krieg in der Ukraine entstand, nachdem der Westen, nicht nur die USA, auch die EU unter maßgeblicher Beteiligung Deutschlands, versucht haben, die Ukraine aus der historischen Verbindung mit Russland zu lösen, die auch zwischen den beiden selbständigen Republiken bis 2014 bestand, und sie in den Einfluss-, besser Hegemonialbereich der EU und der NATO einzufügen. Die russische Politik und der Krieg waren die Wirkung dieser westlichen Politik, nicht die Ursache. Und dass es um die „Restauration des sowjetischen Einflussbereichs“ gehe ist eine Unterstellung, keine begründete Aussage.
Die weltweiten Rüstungsausgaben betrugen im Jahre 2014 über 1.700 Milliarden US-Dollar. Sie liegen damit um mehr als ein Drittel höher als am Ende der Blockkonfrontation. Über 60 Prozent entfallen auf die NATO. Die USA haben unter Präsident Barack Obama die Rüstungsprogramme auf qualitative Modernisierung getrimmt; deshalb sind die Ausgaben in den vergangenen Jahren in der Summe etwas abgesenkt worden, nachdem sie unter der Präsidentschaft von Bush II verdoppelt wurden, und machen mit 610 Milliarden US-Dollar (2014) nach wie vor mehr als das Siebenfache der Ausgaben Russlands (84,5 Milliarden) und fast das Dreifache des Rüstungsetats der Volksrepublik China aus (216 Milliarden). Auch das Wettrüsten ist ein Ergebnis westlicher Vorrüstung und von Nachrüstung der anderen. Und die „gescheiterten militärischen Interventionen“ sind allesamt solche des Westens. Der Aufstieg des IS war eine unmittelbare Folge des Krieges der USA und ihrer Willigen gegen den Irak. Wenn die Aussage richtig ist, die Welt sei unregierbar, so ist sie dies im Gefolge der Politik des Westens.
Der weitere Text ist von ähnlicher Güte. So wird chinesisches Landgrabbing als destabilisierendes Element in Afrika aufgeführt, ohne hinzuzufügen, dass es auch taiwanesisches, indisches, saudi-arabisches und vor allem EU-europäisches Landgrabbing in Afrika gibt. Und es waren die Fischfangflotten der EU, die vor Somalia oder Senegal die Meere leer fischten, so dass die dortigen Fischer ihre Existenzgrundlage verloren und etliche zu Piraten wurden. Der Zerfall postkolonialer Staaten wird konstatiert; diese hätten ihre staatliche Symbolik inszeniert, „ohne öffentliche Güter für ihre Bevölkerung bereitzustellen“. Dass viele dieser Länder seit den 1960er Jahren einem nationalen Entwicklungsmodell folgten, das die rasche Schaffung öffentlichen Schulwesens und Gesundheitswesens, Subventionierung der Lebensmittel und ähnliches einschloss, lässt Menzel ebenfalls weg. Dies alles aber fiel drastischen Kürzungen zum Opfer, nachdem die Länder seit den 1980er Jahren verschuldet waren und Weltbank und Internationaler Währungsfonds diese verordneten.
Grundthese bleibt: die USA seien wohlwollender Hegemon, der in der Blockkonfrontation nicht nur seinem Gefolge „internationale öffentliche Güter“ bereitgestellt habe, nach 1990 der ganzen Welt, während die Sowjetunion lediglich imperiale Macht gewesen sei, die ihre Unterworfenen zur Finanzierung herangezogen habe. Russland wird jetzt wieder diese imperiale Mütze aufgesetzt, ihre Politik habe „eine prinzipiell antiwestliche Tendenz“, was sich auch in Syrien zeige, schließlich unterstütze sie „das Assad-Regime“. China habe eigene Großmachtambitionen und denke nicht daran, wohlwollende hegemoniale Aufgaben zu übernehmen.
Der Kipp-Punkt also soll sein, dass heute die Gefahr bestehe, dass die USA sich auf sich zurückziehen und nicht mehr bereit seien, „die Rolle des Hegemons und damit auch des Weltpolizisten mit Zuständigkeit für alles und jedes wahrzunehmen“. Genau betrachtet war aber genau dies die Hauptursache für die Krisen und Konflikte in der Welt. In Sachen Vermeidung EU-Zerfall plädiert Menzel dafür, dass Deutschland als „Eurohegemon“ handelt.
Die „Blätter“ werben immer noch mit dem Spruch des Theologen Karl Barth, sie seien „eine Insel der Vernunft in einem Meer von Unsinn“. Mit Autoren wie Menzel und Münkler, der dort ebenfalls gern gedruckter Autor ist, fördern sie gerade die Überschwemmung der Insel. Man muss das nicht gleich Unsinn nennen. Mainstream reicht. Oder ideologische Bemäntelung US-amerikanischer und deutscher Machtpolitik.
Schlagwörter: Blätter für deutsche und internationale Politik, Erhard Crome, Hegemonie, Herfried Münkler, Imperien, Rüstungsausgaben, Ulrich Menzel, Weltgeschichte