von Erik Baron
Wieder wird ein Vater zu Grabe getragen. Otto Ulitz, Mathematikprofessor und Wirtschaftskoryphäe unter Ulbricht, in den 1980er Jahren ins Abseits gestellt und nun in Einsamkeit gestorben. Die Reihen lichten sich, allmählich stirbt sie aus, jene Vätergeneration, die den Aufbau der DDR maßgeblich mitgestaltet haben, die für die Idee gebrannt hat, ein sozialistisches Korrektiv gegen den Zerstörung und Verderben bringenden Kapitalismus zu setzen. Und es ist sicher kein Zufall, dass gerade jetzt verstärkt Bücher erscheinen, in denen die Kinder der Funktionäre die Geschichten ihrer Väter aufarbeiten – angefangen von Eugen Ruge über Regina Scheer bis zuletzt zu dem im Frühjahr 2015 erschienenen Roman „Alle Nähe fern“ von André Herzberg.
Nun also „Deutsche Demokratische Rechnung“ von Dietmar Dath, die (fiktive) Geschichte von Otto Ulitz, aus der Sicht seiner Tochter Vera gesehen. Dath ist Jahrgang 1970 und westsozialisiert, kann also nicht aus eigener Erfahrung schreiben. Ihn als Linken treibt aber das Interesse an dem jenseits der Mauer gescheiterten sozialen Experiments namens DDR, an ihren Strukturen, den Erfahrungen und Fehlern. Wenn ein Protagonist aus Daths etwas sperrig klingender Liebeserzählung sagt: „… ich glaube, wir sind es den Alten ganz allgemein schuldig, dass zumindest nicht so schnell vergessen wird, was sie erlebt und probiert haben, woran sie gescheitert sind. Man kann daraus ja lernen und muß nicht alles übernehmen“, dann klingt es wie ein Credo von Dath selber, oder wie aus dem Vorwort von Katrin Rohnstocks Anthologie „Jetzt reden wir!“, in der sie ehemalige Generaldirektoren von DDR-Kombinaten zu Wort kommen lässt. Überhaupt verbindet Rohnstocks Anthologie mehr mit Daths Liebeserzählung, als sie beide möglicherweise vermuten. Es geht um linke Synergien zwischen den Generationen, um die Verknüpfung von Erfahrungen von DDR-Wirtschaftsfunktionären mit den gegenwärtigen Zielen der linken und linksradikalen Szene, in die uns Dietmar Dath mit seiner Erzählung hineinführt. Es geht um die Erweiterung linker Dimension.
Vera Ulitz also trägt ihren Vater zu Grabe und erbt neben einer Eigentumswohnung einen Wust von Papieren: wirtschaftstheoretische und mathematische Fragmente, die sie zu sichten anfängt. Denn diese Papiere weckten verschiedene Begehrlichkeiten, als bekannt wurde, dass Otto Ulitz verstorben ist. Ulitz, ein Mann Ulbrichts, galt gemeinhin als Vertreter der reinen Lehre, der Ordnung, der gegen das Prinzip Zufall, gegen das Chaos mit dem Namen Kapitalismus vorgegangen ist. Also ein Stalinist durch und durch. Doch so einfach, wie heutzutage Geschichte geschrieben wird, war sie nicht gewesen. Gerade Ulitz wollte den Zufall als mathematische und somit ökonomische Größe in Wirtschaftspolitik mithilfe von Wahrscheinlichkeitsberechnungsmodellen mit einbinden. Das Neue Ökonomische System (NÖS) unter Ulbricht bot dafür ausreichend Gelegenheit. Doch mit Ulbrichts Sturz durch Honecker war damit Schluss, und auch Ulitz hatte alsbald ausgedient, wurde aufs Abstellgleis geschoben. Dass er von seinen Berechnungen und Modellen auch weiterhin nicht lassen konnte, galt als offenes Geheimnis, das nunmehr, nach seinem Tod, gelüftet werden wollte. So tritt auch zu Tage, dass Ulitz bis zuletzt dem sogenannten Schürer-Papier von 1989 widersprochen hatte, das den baldigen Zusammenbruch der DDR prophezeite. Der eigentliche Untergang der DDR, so lassen sich die Ulitz-Papiere zusammenfassen, sei die Absetzung Ulbrichts gewesen. Während Ulbricht den Aufbau des Sozialismus dreidimensional vorantrieb (Chancengleichheit plus Leistungsprinzip plus Grundsicherung), fiel bei Honecker die zweite Dimension Leistungsprinzip unter den Tisch. Das konnte auf Dauer nicht gutgehen. Für den Mathematiker Ulitz und dessen matheaffiner Tochter Vera stellt sich dieser Unterschied wie das Verhältnis des größtmöglichen Kreises in einem Quadrat (zwei Dimensionen) zur größtmöglichen Kugel in einem Würfel (drei Dimensionen) dar: Der Inhalt des Würfels wachse relativ (ab der fünften Dimension sogar absolut) schneller im Vergleich zur Kugel. Oder: der Würfel wird immer größer, weil es weniger Mitte, dafür mehr Ecken gibt. Die Differenz im Flächeninhalt ist beim flachen Quadrat und dem in ihm liegenden Kreis am geringsten. Nun kommt es in der gesellschaftlichen Planung aber darauf an, soviel wie möglich Dimensionen zu berücksichtigen, was natürlich stets auf Kosten der Mitte geht, deren Inhalt aber letztlich entscheidend ist.
Numa langsam, denke ich, und versuche der Dathschen und Ulitzschen Abstraktion zu folgen. Numa? Richtig! Der Held der Mitte von Peter Hacks! „Numa“, jene Komödie aus dem Jahr 1971, dem Jahr der Absetzung von Ulbricht, die sich so zusammenfassen ließe, dass auf Ulbricht immer nur Ulbricht folgen könne. Denn die Mitte liege nicht zwischen den Enden, sondern darüber, erläuterte Hacks sechs Jahre später in seinem Essay „Numa oder die Mitte“! Wie gesagt: Man kann beim Aufbau des Sozialismus nicht genügend Dimensionen einbringen, und plötzlich ist bei Dath (was wiederum nicht so verwunderlich ist) eine Hacks’sche Dimension dabei. Und Otto Ulitz, um wieder in die eigentlichen Liebeserzählung von Dath zurückzukehren, „hat die Kugel gesucht in dem mehrdimensionalen Würfel, also in den ganzen Dimensionen“, versteht auch der Journalist Frigyes die Erläuterungen von Vera über ihren Vater. Frigyes will eine Reportage über mögliche Allianzen zwischen jungen Antifa-Leuten und dem Erfahrungsschatz der Vätergeneration schreiben – und insofern auch die Dimension von linkem Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse erweitern. So zumindest lässt er es Vera glauben, die sich ernsthaft in ihn verliebt zu haben schien, während er sie offenbar nur benutzte, um an die Ulitz-Papiere heranzukommen. Dass hier andere Interessen, andere Dimensionen dahinterstecken könnten, ahnt der aufmerksame Leser alsbald, auch weil dieser Frigyes in der Berliner Antifa-Szene, in die uns Dath hineinführt, stets mit Misstrauen beäugt wird.
Dath verknüpft in seiner Erzählung linken Widerstand der Antifa-Szene gegen aktuelle soziale Missstände mit dem Erfahrungsschatz der Neuen Ökonomischen Politik unter Ulbricht zu einer spannenden Liebeserzählung. Mehr noch: „Deutsche Demokratische Rechnung“ selbst entwickelt sich zu einer mehrdimensionalen Liebeserzählung, spannt sich von Liebesverrat (zwischen Vera und Frigyes) bis zur postumen Aussöhnung zwischen Vera Ulitz und ihrem Vater. Manchmal wirkt sie etwas konstruiert, vor allem dort, wo Dath den Bogen zu den marxistischen Klassikern zu schlagen versucht, um Widerstand theoretisch zu fundieren, und manchmal versetzt er den nichtmathematischen Leser durch sein Jonglieren mit mathematischen Begrifflichkeiten in Verwirbelungszustände. Unterm Strich jedoch bleiben ein kurzweiliges Lesevergnügen und die Hoffnung, dass dieser Brückenschlag zwischen den Generationen glücken mag und auf eine breite Leserschaft trifft, die sich weder von der einen noch von der anderen Dimension abschrecken lässt.
Dietmar Dath: Deutsche Demokratische Rechnung. Eine Liebesgeschichte, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2015, 240 Seiten, 17,99 Euro.
Schlagwörter: DDR, Dietmar Dath, Erik Baron, Generationen, Sozialismus