18. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2015

Washingtons sicherheitspolitischer Geisteszustand.
Eine Erwiderung

von Hannes Herbst

In der vorangegangenen Blättchen-Ausgabe hat der Autor Sarcasticus für die US-Machteliten die Diagnose „sicherheitspolitisch grenzdebil“ praktisch als zu schwach verneint. Was wäre der nächste Grad? Imbezill?
Der Sarcasticus-Beitrag war zwar erkennbar satirisch angelegt, aber – tatsächlich handelte es sich um Real-Satire. Denn der Autor hatte seinem Diktum ja unter anderem den unleugbaren Sachverhalt zugrundegelegt, dass sämtliche US-Militärinterventionen seit 9/11 (Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien) gescheitert sind, also ihre jeweils deklarierten Ziele nicht erreichten, und darüber hinaus jedes Mal Zustände geschaffen und hinterlassen haben, die unterm Strich schlimmer waren als zuvor. Trotzdem haben die USA eine Intervention an die nächste gereiht, und ein Ende dieses quasi autistisch ablaufenden Verhaltensmusters ist nicht in Sicht. Insofern mag man Sarcasticus‘ Diagnose gar nicht widersprechen.
Nun sind allerdings die US-Machteliten kein monolither Block. Da gibt es durchaus widerstreitende Denkschulen, außen- und sicherheitspolitische Konzepte mit unterschiedlichen Prioritätensetzungen sowie differenziert gewichtete internationale Haupt- und Nebenkriegsschauplätze. Das spiegeln häufig auch die jeweiligen Administrationen wider, etwa wenn State Department, Pentagon, Nationaler Sicherheitsrat und die diversen Geheimdienste keineswegs immer und mit vergleichbarer Intensität an einem Strang ziehen.
Was also, wenn es neben den erklärten offiziellen Interventionszielen in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien noch andere, vorsätzlich verheimlichte oder zumindest kollaterale gab, die aufgegangen sind oder noch aufgehen könnten?
Welche das gegebenenfalls wären? Werfen wir dazu einen Blick darauf, was US-Experten über Massenmigration als Mittel internationaler Politik denken.
Da gibt es den Militärstrategen Thomas P. M. Barnett. Der sei „nicht irgendein Spinner […], sondern eine Kapazität in Sachen Kriegsführung und Unterwerfung“, meint jedenfalls Der Spiegel. Barnett war als Professor am U.S. Naval War College nach 9/11 zum Berater des damaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld avanciert. Im Jahre 2004 hatte er mit dem Buch „Pentagon’s New Map“ seine Landkarte künftiger US-Kriege präsentiert und 2005 mit „Blueprint for Action: A Future Worth Creating“ („Plan zum Handeln: Ein Zukunft, die wert ist, erschaffen zu werden“) nachgelegt. In letzterem ist folgendes nachzulesen: „Gleichschaltung der Länder durch Flüchtlingsströme. Das Endziel ist die Gleichschaltung aller Länder der Erde, sie soll durch die Vermischung der Rassen herbeigeführt werden, mit dem Ziel einer hellbraunen Rasse in Europa. Hierfür sollen in Europa jährlich 1,5 Millionen Einwanderer aus der dritten Welt aufgenommen werden. Das Ergebnis ist eine Bevölkerung mit einem durchschnittlichen IQ von 90, zu dumm zu begreifen, aber intelligent genug um zu arbeiten.“
Solche Überlegungen werfen angesichts der gegenwärtigen Flüchtlingsströme in Richtung Europa aus Ländern, in denen zuvor unter US-Führung die Demokratie herbeigebombt werden sollte, die Frage auf, inwiefern diese Massenmigrationen nicht auch ein Ergebnis eines strategischen Kalküls bestimmter Kräfte in den USA sind. Und das gilt neben Afghanistan, Irak und Syrien nicht zuletzt für Libyen, von wo aus sich mehr und mehr afrikanische Flüchtlinge in Marsch setzen konnten und können, seit auch dort die staatliche Ordnung zerstört worden ist.
Vor dem Hintergrund der Barnettschen Vision für Europa erhält auch die ursprüngliche US-Haltung zum Islamischen Staat – duldend, ja unterstützend – eine zusätzliche Dimension, erscheint nicht mehr nur allein dem Bestreben entsprungen, das Assad-Regime zu stürzen. Und wem dies angesichts heutiger Berichterstattung über amerikanische Luftangriffe auf den IS an den Haaren herbeigezogen scheint, dem sei das Statement des früheren Chefs des militärischen US-Geheimdienstes DIA, Micheal Flynn, vom 10. August 2015 in Erinnerung gerufen. Gegenüber dem arabischen Sender Al Jazeera äußerte der General, dass die US-Regierung im Jahre 2012 vorsätzlich beschlossen habe („a willful decision“), gemeinsam mit der Türkei und einigen arabischen Golfstaaten jihadistische, Al Qaida-geführte Rebellen in Syrien politisch und mit Waffen zu unterstützen. Dabei sei die Warnung seiner Behörde, dass dies „Al Qaida erlauben würde, seine Positionen in Irak zurückzugewinnen und die jihadistischen Streitkräfte der Sunniten in Irak, Syrien und der übrigen […] arabischen Welt zu vereinigen“, bewusst ignoriert worden.
Ein anderer US-Stratege ist George Friedman, Chef von Stratfor, einem vom Handelsblatt als „Schatten-CIA“ apostrophierten neokonservativen Think Tank, zu dessen 30.000 Kunden neben US-Militärs und Hedge-Fonds-Managern auch maßgebliche Politiker und Großkonzerne gehören. Stratfor wurde zwar bereits 1996 gegründet, ist aber erst seit 2012 öffentlich bekannt – seit Wiki-Leaks interne Dokumente des Unternehmens publizierte. Unter anderem über die Arbeit mit externen Quellen. „Wenn die Quelle wertvoll ist, dann musst Du sie unter Kontrolle bringen”, so Friedman höchstpersönlich; und: „Kontrolle bedeutet: finanzielle, sexuelle oder psychologische Kontrolle bis zu dem Punkt, an dem die Quelle bereit ist, Anweisungen entgegenzunehmen.“
Schenkt man Friedman Glauben, hier konkret seinem 2011 erschienenen Buch „The Next Decade“, dann haben die USA schon seit 100 Jahren einen Horror vor einer zu dichten Annäherung zwischen Deutschland und Russland, weil dies die einzige Allianz sei, die den USA gefährlich werden könne. Kommenden US-Präsidenten empfahl Friedman daher, zur Eindämmung Deutschlands die EU-Partner systematisch gegeneinander auszuspielen und vor allem enge Beziehungen zu Nachbarstaaten Deutschlands zu pflegen, etwa zu Polen oder zu Dänemark.
Dass Massenmigration keine Zentripedalkraft ist, die die EU-Partner enger zusammenschweißt, müsste das Jahr 2015 auch dem letzten Illusionisten vor Augen geführt haben. Und es gehört keine seherische Gabe dazu vorherzusagen, dass jedes weitere Schüren dieser Migration – ob nun gezielt oder als Kollateraleffekt des militärischen und sonstigen Vorgehens der USA im Nahen und Mittleren Osten oder anderswo – diese Wirkung noch verstärken wird.
Wenn damit europäische Staaten, allen voran Deutschland, innenpolitisch destabilisiert würden, käme dies strategischen US-Intentionen wie den von Friedman entwickelten entgegen. Ob dem ebenfalls ein zielgerichtetes Kalkül interessierter Kreise innerhalb oder außerhalb der derzeitigen US-Administration zugrunde liegt, mag gläubigen Atlantikern als blasphemische Frage erscheinen. Die US-Politikwissenschaftlerin Kelly M. Greenhill allerdings kam in einer 2010 veröffentlichten Untersuchung von 56 historischen Fällen der politisch-strategischen Ausnutzung von Massenmigrationen zu einem Fazit, das sie ihrer Publikation den Titel „Weapons of Mass Migration“ („Massenmigrationswaffen“) geben ließ. „Flüchtlinge als Waffen benutzen“, so brachte es Greenhill selbst in einem Beitrag für die New York Times auf den Punkt, soll in drei von vier analysierten Fällen erfolgreich praktiziert worden sein.
Womit wir womöglich auch wieder bei Barnett wären, und bei einem Fazit, dass unter den hier skizzierten Blickwinkeln die Interventionsbilanz der USA seit 9/11 spürbar anders aussehen lässt als beim Kollegen Sarcasticus …