von Holger Politt, Warschau
Jahreszahlen mit großer historischer Bedeutung stehen im Raum – 1989 und 1980. Für Jarosław Kaczyński ist es keine Frage: Das ablaufende Jahr steht damit in einer Reihe. Um es genauer zu sagen: Der Wahlerfolg seiner nationalkonservativen Partei PiS habe Polen in die Lage versetzt, die auf 1989 folgende Fehlentwicklung zu korrigieren. Wieder zieht er den Runden Tisch von 1989 vor, jenes Möbelstück, an dem seinerzeit bis kurz nach Ostern ein neues Kapitel in der Geschichte Polens weit aufgestoßen wurde. Um den Tisch herum hatten ab Februar führende Regierungsvertreter mit der „Solidarność“-Opposition zusammengesessen, um einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu finden, die das Land seit mehreren Jahren geprägt hatte.
Nagelprobe waren die Wahlen vom 4. Juni 1989, die in ausgehandelten Teilen frei waren, insgesamt aber die Fortführung einer Regierung unter Führung der sozialistischen Einheitspartei PVAP absichern sollten. Dass es schief ging ist bekannt, ein handwerklicher Fehler, wie heute oft gesagt wird. Die wichtigsten Regierungsvertreter standen auf einer sogenannten Landesliste, was die Bedingung einschloss, mindestens 50 Prozent aller abgegebenen Stimmen zu erhalten. Niemand auf dieser privilegierten Liste schaffte den Sprung in den Sejm, obwohl jeweils eine beeindruckende Stimmenzahl von sechs bis fast neun Millionen zu Buche stand. Gazeta Wyborcza, damals das Wahlblatt der Opposition, fand schnell den Ausweg: Euer Präsident, unser Premier!
Inmitten des unbeschreiblichen Gewimmels auf „Solidarność“-Seite – Jarosław Kaczyński. Beteiligt war er an den Beratungen am Runden Tisch, als Mitglied in einem Ausschuss. Nachdem Tadeusz Mazowiecki im Sommer schließlich Ministerpräsident geworden war, übernahm Kaczyński in dessen Nachfolge für geraume Zeit den Sessel des Chefredakteurs in der damals einflussreichen Wochenzeitung Tygodnik Solidarność. Von dort ging es die Stufenleiter rasch aufwärts, denn als Lech Wałȩsa im Dezember 1990 Polens erster direkt gewählter Staatspräsident wurde, übernahm Kaczyński die Präsidialkanzlei. Der schnelle Bruch mit dem einstigen Arbeiterführer setzte den ehrgeizigen Mann indes auf andere politische Gleise, dorthin, wo schließlich im Feuer der 90er Jahre und etwas abseits vom Schuss erfolgreich das nationalkonservative Eisen geschmiedet wurde.
Mit dem in der festen Hand stieg Jarosław Kaczyński schließlich zu einem der erfolgreichsten, ganz sicher auch einflussreichsten Politiker Polens für die Zeit nach 1989 auf. Zu seinem Markenzeichen wurde allerdings die Abrechnung mit der Zeit seit 1989. Der Runde Tisch sei Verrat gewesen, denn nie hätte mit denjenigen verhandelt werden dürfen, die 1981 der „Solidarność“-Revolution ein brutales Ende gesetzt hätten. Ohne es direkt anzusprechen, meint er natürlich in erster Linie die spektakulären Erfolge der als Postkommunisten verschrienen PVAP-Nachfolger, die 2001 immerhin zur dominierenden politischen Kraft aufgestiegen waren. Den großen Konkurrenten aus dem einstigen „Solidarność“-Lager, die strikt wirtschaftsliberal ausgerichtete PO-Partei unter Donald Tusk, bezichtigte er alsbald, billigend in diesem trüben Fahrwasser zu segeln.
Nun sieht er sich am Ziel, ist fest überzeugt, das Jahr 2015 stehe in einem unmittelbaren Zusammenhang mit 1980, dem Beginn des „Solidarność“-Aufstands. Wie damals könne sich die nationale Gemeinschaft aus dem allzu engen Korsett von Fremdbestimmung befreien, in dem sie zuvor gefangen gehalten wurde. Zwar ist das alles ausgemachter Unfug auch in Hinsicht auf die Bewertung von 1980, doch die Menschen im heutigen Polen staunen natürlich zuallererst über die historische Einordnung jener Zeit, die ihnen kürzlich noch Gegenwart war. Denn Polens wackerster Geschichtsritter will nun rasch sein Meisterstück abliefern – die Änderung der Verfassung von 1997. Die nämlich sei hinfällig, weil durch Polens EU-Beitritt 2004 sowieso andere Verhältnisse eingezogen seien, gegen die mit der bestehenden Verfassung kein ausreichender Schutz gewährleistet werden könne. Die Zumutungen jedenfalls, die der nationalen Gemeinschaft aus Brüssel erwachsen, bräuchten eine entschiedenere Hand. Da finden die sogenannte Genderideologie und die EU-Klimapolitik, die in erster Linie gegen die einheimische Steinkohle gerichtet sei, oder aber die gefährlich-dominante Stellung Deutschlands gleichermaßen ihre Rolle.
Indes wartet die erste schwere Hürde auf Kaczyński gleich zu Hause. Zehntausende Menschen gehen auf die Straße, um die Verfassung zu verteidigen. Sie tun es mit dem weiß-roten Tuch und dem Blau der EU. Vielleicht ähnelt der Geschichtsritter ja doch ein wenig dem verschlagenen Teufel in jener Geschichte, die Adam Mickiewicz am Collège de France vortrug. Der Teufel beobachtet argwöhnisch die Menschen, die Korn aussäen. Um ihnen ins Handwerk zu pfuschen, beschließt er, die Körner einzeln und tief in die Erde zu drücken.
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