von Christoph Butterwegge
Schon zwei Jahre nach Bildung ihrer dritten Koalitionsregierung auf Bundesebene erklärten CDU, CSU und SPD stolz, bereits einen Großteil ihres Regierungsprogramms für die ganze Legislaturperiode verwirklicht zu haben. Zieht man eine vorläufige Bilanz der Regierungsarbeit, erweist sich das Selbstlob als ungerechtfertigt. Zumindest gilt dies im Hinblick auf die sozialpolitische Kardinalfrage einer wirksamen Armutsbekämpfung. Da die Altersarmut derzeit am stärksten zur Armutsentwicklung im wohlhabenden, wenn nicht reichen Deutschland beiträgt, steht hier die Frage im Mittelpunkt, ob Altersarmut durch das Rentenpaket – die umfangreichste und bedeutsamste Gesetzesinitiative der Großen Koalition auf sozialpolitischem Gebiet – verringert bzw. ihre Entstehung verhindert wird.
CDU und CSU realisierten ihr Projekt einer verbesserten „Mütterrente“ für Frauen, die vor dem 1. Januar 1992 Kinder geboren haben und bisher dafür nur je einen Entgeltpunkt (statt drei Entgeltpunkte für ab diesem Stichtag geborene Kinder) angerechnet erhielten. Die Anrechnung eines zweiten Rentenpunktes, von der hauptsächlich ältere Frauen – größtenteils Unionswählerinnen – profitieren, kommt auch Millionen Frauen zugute, die weder arm sind noch einen Mütterzuschlag benötigen, um im Alter gut leben zu können. Die gerade unter älteren Frauen verbreitete Armut kann eine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip aber nicht beseitigen, zumal Grundsicherungsbezieherinnen überhaupt nicht in den Genuss des Zuschlags auf ihre Altersrente gelangen, weil er auf die Transferleistung angerechnet wird. Unter dem Gesichtspunkt der Armutsbekämpfung ist die Mütterrente daher wenig zielführend.
Auf Drängen der SPD wurde die Vertrauensschutzregelung zur Anhebung der Regelaltersgrenze erweitert: Besonders langjährig Versicherte (mindestens 45 Beitragsjahre, zu denen neben Kinderberücksichtigungs- und Pflegezeiten auch bestimmte Zeiten der Arbeitslosigkeit zählen) konnten ab 1. Juli 2014 schon nach Vollendung des 63. Lebensjahres abschlagsfrei in Rente gehen. Dies galt jedoch nur für Angehörige der Geburtsjahrgänge 1951 und 1952. Für die Folgejahrgänge erhöht sich das Zugangsalter, mit dem der abschlagsfreie Rentenzugang möglich ist, parallel zur Anhebung des allgemeinen gesetzlichen Renteneintrittsalters um jeweils zwei Monate pro Lebensjahr, bis Angehörige des besonders geburtenstarken Jahrgangs 1964 erst mit dem vollendeten 65. Lebensjahr abschlagsfrei Altersrente beziehen können. Ab 2029 gilt dann als ein Privileg für Rentenanwärter mit extrem langer Versicherungsbiografie, was bisher für alle Versicherten möglich war: mit 65 eine Altersrente ohne Abschläge zu beziehen.
Während die Mütterrente und die Rente ab 63 mit hohen Kosten für Beitrags- und später auch für Steuerzahler sowie mit allgemein sinkenden Rentensteigerungen verbunden sind, halten sich die Leistungsverbesserungen für Erwerbsminderungsrentner sehr in Grenzen: die Anhebung des sogenannten Reha-Deckels, die Verlängerung der Zurechnungszeit um zwei Jahre und die Günstigerprüfung. Rentnerinnen mit vor 1992 geborenen Kindern sowie Arbeitnehmer mit 45 Beitragsjahren, die während der nächsten Monate und Jahre vorzeitig in den Ruhestand wechseln wollen – hauptsächlich Facharbeiter in Großbetrieben und Angestellte des öffentlichen Dienstes –, profitieren von den Reformmaßnahmen, wohingegen Menschen, die zur selben Zeit wegen gesundheitlicher oder psychischer Beeinträchtigungen vorzeitig in Rente gehen müssen, von CDU, CSU und SPD eher stiefmütterlich behandelt und mit einem Almosen abgespeist wurden.
Abgesehen davon, dass erwerbsgeminderte Bestandsrentner ebenso wenig in den Genuss der leichten Verbesserungen gelangen wie erwerbsgeminderte Neurentner, die aufstockend Grundsicherung im Alter beziehen müssen, ergab sich in der Regel nur ein Plus von rund 36 Euro netto, das die Betroffenen kaum aus der Armut führen dürfte. Denn auch für Erwerbsgeminderte steigt die Regelaltersgrenze schrittweise vom 63. auf das 65. Lebensjahr. Um den Schutz bei Erwerbsminderung umfassend zu verbessern, müssten die Rentenabschläge vollständig gestrichen und die Zurechnungszeit um drei statt zwei Jahre erhöht werden. Schließlich ist es für die Betroffenen keine freie Entscheidung, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen.
Aus den genannten Gründen ist das Fazit ambivalent: Zwar gibt es zum ersten Mal seit 1972 wieder spürbare Leistungsverbesserungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung, die aber weder allen Rentnern und Rentenanwärtern noch vorrangig den am meisten bedürftigen Senioren zugutekommen. Um der sich ausbreitenden Altersarmut entgegenzuwirken, fehlt den Maßnahmen die nötige Zielgenauigkeit. Die soziale Ungleichheit im Alter nimmt künftig vermutlich auch deshalb zu, weil ohnehin Bessergestellte noch stärker privilegiert werden und ausgerechnet jene Menschen von den Leistungsverbesserungen nicht oder nur unterdurchschnittlich profitieren, die großzügigerer Regelungen am dringendsten bedürften. Aufgrund der Klientelorientierung von CDU, CSU und SPD lassen die Regierungsparteien ein geschlossenes und in sich schlüssiges Rentenkonzept vermissen. Da sie dem Ziel, die bestehende Altersarmut zu verringern und deren Neuentstehung zu verhindern, offenbar keine Priorität einräumen, wächst das Armutsrisiko für Senioren.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Kürzlich ist sein Booklet „Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung. Eine sozial- und steuerpolitische Halbzeitbilanz der Großen Koalition“ bei Springer VS erschienen.
Schlagwörter: Altersarmut, Christoph Butterwegge, Regierungsprogramm, Renten, Sozialpolitik