18. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2015

Chance und Scheitern

von Heino Bosselmann

Gemeinschaften existieren unter anderem über die Vereinbarung, ihre Mitglieder zu schützen und zu versorgen. Das verhält sich mit Familien ebenso wie mit Versicherungen, Rentenkassen und Staaten. Was zur Tragik des Menschlichen gehört – Leid, Not und das konstante Versagen – soll, wenn es schon unvermeidbar ist, mindestens geregelt werden können, beispielsweise über Solidarprinzipien.
Was könnte eine Gemeinschaft besser konstituieren als die weitestgehende Garantie von „Wohlfahrt“? Das Bürgerrecht Roms, die Gefolgschaftsverhältnisse bei Kelten und Germanen, die daraus erwachsende Vasallität des Mittelalters, seine Schutz- und Trutzbündnisse, die Treueide zwischen Herr und Holdem, die Stände, Korporationen, schließlich die modernen Gesellschaftsverträge der Neuzeit, all das sicherte über verschiedene historische Ausformungen Gemeinschaftlichkeit in sich und gegenüber anderen.
Die vielfältigen Fährnisse des Lebens sollten weitgehend umfriedet werden, so dass es sich damit leben lässt und Not und Schicksalsschläge gemildert werden. Ein guter Staat ist jener, in dem Bürger für Bürger sorgen. Oligarchien, Kleptokratien, überhaupt korrupte Regimes müssen dagegen über kurz oder lang mit Widerstand rechnen und funktionierten letztendlich nicht längerfristig, sondern immer nur vorläufig.
Was aber im umgekehrten Fall, wenn eine Gesellschaft unternehmerisches und individuelles Scheitern grundsätzlich zu vermeiden sucht? Banken, die trotz gravierender Geschäftsfehler nicht zusammenbrechen durften, wursteln weiter und läutern sich in ihren Praktiken nicht unbedingt von selbst. Dauersubventionierte Bereiche florieren nicht, sondern verwalten ihre fragwürdige Weiterexistenz.
Und Abiturienten, denen man nach zweifelhafter Schullaufbahn die Prüfungsmarken immer niedriger hängt, freuen sich über ihre meist guten und sehr guten Schnitte und fluten die Universität mit Erwartungshaltungen und Lifestyle-Vorstellungen, die früher dort nichts zu suchen hatten. Das Gros der übrigen Schüler wird überhaupt nicht mehr im eigentlichen Sinne geprüft, sondern durchgewunken. Man bedenke, dass die viel zu hohe Zahl der Schulabbrecher in Deutschland keinesfalls harten Examina geschuldet ist, sondern der Null-Bock-Stimmung, die schon physische Anwesenheit als unzumutbar empfindet. Mecklenburg-Vorpommern etwa stellt am Ende der Regionalschule Prüfungen zur sogenannten Berufsreife rundweg frei.
Nein, es soll hier keinen rigorosen Regularien das Wort geredet werden, aber zur biographischen Reifung gehört als wichtige Erfahrung auch das Scheitern. Wer scheitert, ist weder verworfen noch verloren, sondern wird an anderer Stelle entsprechend seinen Talenten erfolgreich sein können. Und selbstverständlich hat die Gesellschaft ihn aufzufangen und zu stützen. Die Grundstimmung der immer zahlreicheren Antidiskriminierungsgesetze, Inklusionen von allen und jedem sowie die Dauerhilfestellungen mögen ein – zweifelhafter! – humanistischer Gewinn sein, offenbaren jedoch ihre Kehrseite darin, auf Leistungsanreize zugunsten von unberechtigtem Lob und therapeutischer Dauerermutigung zu verzichten. Nein, man kann eben nicht jeden dort abholen, wo er steht, wie es die Pädagogik in einem immerfort ventilierten Lapsus fordert. Manchmal muss er sich bewegen wollen, sonst entsteht ein unerquickliches Gezerre.
Gerade die Ganztagsschule, einer der gängigsten politischen Trostbegriffe, suggeriert die Vorstellung von einem aus der Welt gehaltenen Laboratorium, wo man hinter Glas ausprobiert, was man für das Leben hält. Das Leben aber ist draußen. Dort wären Erlebnis und Bewährung zu finden. Man stelle sich vor, der großartigen Jugendbewegung des frühen letzten Jahrhunderts wäre die Ganztagsschule als Ort für ihre Ziele angeboten worden. Welch ein Hohnlachen hätten diese kraftvollen Jungen und Mädchen angestimmt!