von Erik Baron
Wenn Theater unter die Haut gehen will, muss es tief bohren. Die Hornhaut der Beliebigkeit ist mittlerweile so stark angewachsen und mit Eventverstärkern durchsetzt, dass es für jeden Regisseur zur Herausforderung wird, diese Panzerhaut zu durchstoßen, um Wirkung zu zeitigen. Theater muss wehtun. Wenn Theater keinen Schmerz mehr verursacht – als höchste Form der Lust – hat es seine Funktion als gesellschaftlicher Unruheherd verloren. Wer sich unterhalten will, kann weiter „die nationale Verblödungsanstalt Fernsehen“ (Bierbichler) frequentieren.
Wie nur hält man ein solch masochistisches Bedürfnis nach Theater an Leben? Nur wenige Regisseure beherrschen diese Klaviatur – Altmeister Castorf ist einer von ihnen. Castorf ist von je her ein Meister des Schmerzes. Und mit seiner (vorläufig?) letzten Dostojewski-Inszenierung „Die Brüder Karamasow“ an der Volksbühne zu Berlin reißt er mit Brachialgewalt unsere Hornhaut herunter und macht uns kurzzeitig, wenigstens die sechs Inszenierungsstunden lang, hautlos.
Und welcher Stoff würde sich besser dafür eignen als die Karamasow-Vorlage?! In ihm wird die ganze Ambivalenz der menschlichen Seele und der menschlichen Gesellschaft mit einem Furor ausgebreitet, dass man sich als Leser mit größter Lust der eigenen Enthäutung unterzieht. Stefan Zweig sprach im Zusammenhang mit Dostojewskis Werk von einem „Turmgefühl“ – jenem „göttlichen Wahnsinn, sich über die eigene Tiefe zu beugen und die Seligkeit des tödlichen Niedersturzes vorempfindend zu genießen“.
Begeben wir uns also in den Volksbühnen-Turm, ins komplexe Bühnenbild mit Datscha, Wasserteich, Gartenpavillon und Sauna hinein (das letzte Bühnenbild von Bert Neumann, der im Sommer dieses Jahres verstorben ist und dessen Tod vielleicht der konsequenteste Protest gegen den Castorf-Rauswurf war), denn der Zuschauer, so der Ansatz von Castorf/Neumann, soll auf den „Sitzwürsten“ mitten in der Inszenierung stecken. Gespielt wird – überall: Vom Keller bis zum Dach wird die Volksbühne bespielt, immer begleitet von Kameras, die das Treiben live auf Großleinwand übertragen, was den Vorteil mit sich bringt, den Akteuren tief in die Augen blicken zu können. Denn dort, in deren Gesichtern, spielt die Handlung! Natürlich kann Castorf der vielschichtigen Dimension dieses komplexen Romans nicht gerecht werden – aber dies konnte auch zu keinem Zeitpunkt sein Anspruch gewesen sein. Doch er kann uns gewaltsam die Augen öffnen/offenhalten, um Zusammenhänge wahrzunehmen, die in unserem Alltag der Beliebigkeit verschüttgegangen sind. Dazu muss er den Zuschauer zunächst einmal in den Zustand versetzen, wo ihm die Augen zuzufallen drohen, um sie dann mit der Wucht der Inszenierung wieder aufzureißen. Nur durch das Dunkel erfährt das Licht seine wahre Herrlichkeit. Daher braucht es auch die sechs Stunden Inszenierung. Nur so kommt Castorfs dialektischer Ansatz zur Entfaltung.
„Das mag ich leiden!“ – mehrfach wiederholt die autoaggressiv veranlagte Lisa (Margarita Breitkreiz), im Rollstuhl sitzend, ihre Vorlieben. „Das mag ich leiden!“ – welch verräterischer Satz im Deutschen! In ihm steckt all die Doppelbödigkeit der menschlichen Seele, die Dialektik von Lust und Schmerz, von Gut und Böse, von Libido und Destrudo, von Gott und Teufel, von Glaube und Unglaube. Mit diesem Satz allein lässt sich Castorfs Inszenierung auf den Punkt bringen! Kein Mensch, auch kein Dmitri Karamasow (Marc Hosemann), ist nur böse, obgleich er doch ein Abbild seines Vaters Fjodor Pawlowitsch (Hendrik Arnst) zu sein scheint (selbst der hat trotz seines gelebten Zynismus eine gute, wenn auch verschüttete Seele). Aber ebenso wenig ist kein Mensch, selbst kein Engel wie Alexej Karamasow (Daniel Zillmann), nur gut. Auch Alexej – dies kommt bei Castorf besonders zur Geltung – treiben niedere Gelüste, auch ihn, den Gottgleichen, treibt es in die Gosse. Und über ihnen thront Iwan (großartig: Alexander Scheer), der westlichste unter den Brüdern, der der Religion abgeschworen hat und am Ende doch wieder in sie und durch sie in den eigenen Wahn hineingezogen wird.
Die gegensätzlichen Grenzen fließen durch jeden Karamasow hindurch und weiten sich bei Dostojewski, vor allem durch die Figur des Iwan, zum schier unlösbaren Widerspruch zwischen westlicher Freiheit und östlicher Orthodoxie. (Castorf dehnt diesen Widerspruch noch weiter aus: zum Konflikt Rom gegen Byzanz – ein Konflikt, der bis heute nicht beendet ist und momentan im altbewährten Anti-Rußland-Reflex seine Renaissance erfährt.)
Das Karamasow-Muster spiegelt sich auch und vor allen in den Frauen-Figuren: Gruschenka (Katrhin Angerer), die Frau aus der Gosse, die sich reich gehurt hat und doch an die Liebe glaubt und die engelgleiche Katarina Iwanowna (Lilith Stangenberg), die sich aus Liebe zu ihrem Vater auch prostituierte, wenn sich im Wurm Dmitri nicht im letzten Moment das Gewissen geregt hätte. Und erst die Doppelbesetzung von Starez Sossima und Teufel (Jeanne Balibar)!
Es ist die gesellschaftliche Schizophrenie, die auch Dostojewski an den Rand des Wahnsinns trieb: Gibt es einen Gott, oder gibt es ihn nicht? Wenn es einen Gott gäbe, hätte er doch dieses Unrecht auf Erden nicht zugelassen! Und wäre ohne Gott tatsächlich alles erlaubt, wie Iwan predigt? Das wäre doch pure Anarchie! Wie muss eine Gesellschaft beschaffen sein, damit sie in Frieden existieren kann? Braucht es da nicht doch einen Gott? Wenigstens als Medium zur Entsühnung!? Diese Fragen treiben Dostojewski am Ende seines Lebens um, doch er findet keine Antwort, kann sie nur als Fragen formulieren – mit seinen Karamasow-Brüdern. Und Castorf, am Ende seiner Volksbühnen-Intendanz, gibt diese Fragen an uns weiter – vor allem in der Figur des Iwan Karamasow, der am Ende immer mehr der Christus-Figur von Hans Holbein ähnelt, die er wie sein Kreuz mit sich herumträgt.
Allein der exzentrische Scheer ist diesen Abend wert! Sein Auftritt auf dem Dach der Volksbühne, vor den drei Buchstaben „OST“ das Poem von Dostojewskis Großinquisitor deklamierend, in die Berliner Nacht hinausgeschrien, im Hintergrund die Silhouette vom Alexanderplatz, ist der Höhepunkt der Inszenierung (nicht nur vom Spielort her)! Mit diesem ekstatischen Auftritt reißt Scheer auch dem letzten Zuschauer die gepanzerte Hornhaut vom Leib und überzieht den zitternden Rest mit Gänsehaut. Dieses Poem über die Sehnsucht des Volkes nach den Ketten („Knechtet uns lieber, aber macht uns satt!“) ist von solch gegenwärtiger Wucht, dass man ihm seine hundertdreißig Jahre in keinster Weise anmerkt! Und dann noch das fulminante Ende von Castorfs Inszenierung: Iwans schizophrener Alptraum, sein Zwiegespräch mit dem Teufel über die Existenz Gottes – Dostojewskis Variation von Faust und Mephisto. Hier wird Scheer selbst zu Christus, der sich lustvoll ans (virtuelle) Kreuz nageln lässt.
Wenn sich der Schmerz der Inszenierung verzieht, bricht die Lust vollends durch. Oder mit den Worten von Lisaweta gesagt: Das mag ich leiden!
Nächste Vorstellungen am 18. und 20.12.2015 sowie am 02., 16. und 30.01.2016.
Schlagwörter: Die Brüder Karamasow, Dostojewski, Erik Baron, Frank Castorf, Gesellschaft, Gott, Teufel, Volksbühne