von Renate Drommer
Sechs Meter pro Sekunde die Geschwindigkeit, 40 Sekunden lang schwebt der Fahrstuhl hinauf in 203 Meter Höhe zur Aussichtsplattform mit dem grandiosen Blick über Berlin.
Die Schlange der Schaulustigen reißt nicht ab, 1,2 Millionen Besucher aus 86 Ländern jedes Jahr. Im 25. Jahr der deutschen Einheit gilt der Fernsehturm Einheimischen und Touristen als Wahrzeichen – der ungeteilten Stadt. Die Rede von seinem Abriss, die kurz nach der Wende aufkam, hat sich schnell erledigt. Die Telekom erwarb den Turm und nutzte seine technischen Möglichkeiten. Einen besseren Standort für die Ausstrahlung von Fernseh- und Rundfunkwellen gibt es nicht.
Wie aber kommt ein solches technisches Bauwerk an diesen exklusiven Ort, in die historische Stadtmitte von Berlin?
Als Anfang der fünfziger Jahre die europäischen Sendefrequenzen in Oslo neu vergeben wurden, bekam die DDR nur zwei schwache Bereiche ab. Ostberlin stand unter dem starken Einfluss Westberliner und Alliierter Sender. Problemlos konnten sie vom Schäferberg und dem 230 Meter hohen Sendemast am Scholzplatz die ganze Stadt versorgen.
Das Ministerium für Post und Fernmeldewesen wurde bei den entsprechenden Regierungsstellen in eigener Sache vorstellig. Mit dem Bau eines hoch ragenden Turmes wollte man die funktechnische Versorgung der Bevölkerung im Ostteil der Stadt gewährleisten. Die Müggelberge wurden als geeigneter Standort ausgewiesen und bereits 1952 begannen die Bauarbeiten. Doch nach dreijähriger Bauzeit, zwei Obergeschosse des quadratischen Turmes waren bereits fertig, stoppte Innenminister Karl Maron überraschend die Arbeiten. Was war geschehen?
Zweiundzwanzig Kilometer vom Stadtzentrum entfernt befand sich der sowjetische Militärflughafen Berlin Schönefeld. Seinen Umbau zu einem zivilen Flugplatz ordnete die sowjetische Besatzungsmacht im Jahre 1947 mit dem Befehl Nummer 93 an. Die Arbeiten daran gingen zügig voran. Zu spät bemerkte man im Innenministerium, dass der Turm auf den Müggelbergen mitten in der Einflugschneise des zukünftigen Flughafens liegen würde und durch seine Höhe den Flugverkehr gefährden könnte.
Das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen musste sich nach einem anderen Standort umsehen. Man fand ihn im Volkspark Friedrichshain. Um aber zu verstehen, wie der Turm auf die oberste Entscheidungsebene der Regierung der DDR kam, sind verschiedene Ereignisse zu bedenken.
Walter Ulbricht hatte das im Zweiten Weltkrieg stark zerstörte Hohenzollernschloss 1950 abreißen lassen. Es hatte, nachdem Wilhelm II. es am Ende des verlorenen I. Weltkrieges fluchtartig in Richtung Holland verließ, leer gestanden oder als Depot gedient. Einer neuen Stadtmitte im Sinne des Arbeiter- und Bauernstaates stand das Preußenschloss ohnehin im Wege. Ulbricht wünschte eine Höhendominante, einen 180 Meter hohen verglasten Wolkenkratzer, der die Mitte Berlins bestimmen sollte. Hermann Henselmann, Chefarchitekt von Berlin, entwarf einen „Turm der Signale“. Sein Entwurf war inspiriert vom ersten Sputnik, den sowjetische Wissenschaftler am 4. Oktober 1957 auf eine Bahn um die Erde geschickt hatten.
Henselmanns mit Rubinen besetzte Kugel sollte in 300 Meter Höhe schweben, nachts leuchten, die Antenne vergoldet; dazu ein begehbarer Block, der nichts enthielt als eine einzige Seite des Kommunistischen Manifestes. Dieser Entwurf galt als exzentrisch und zu teuer. Das Hochhaus aus Beton und Glas behielt den Vorrang. Das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen erwirkte in seiner Angelegenheit einen genehmigten Bebauungsplan für das Areal im Friedrichshain und begann 1960 mit der Vorbereitung des Baugrundes.
Zwei teure Bauvorhaben dieser Dimension, den Fernsehturm und das Regierungshochhaus, konnte sich die DDR nicht leisten. 1963 wurden die Arbeiten am Turm erneut gestoppt und alle Verträge gekündigt. Auch das Projekt Regierungshochhaus wurde aus Kostengründen auf Eis gelegt. Gleichzeitig rief die Bauakademie die Architekten zu einem Ideen-Wettbewerb für das neue Stadtzentrum auf. Und nun wechselte der Turm die Entscheidungsebene. Der Sendemast löste das Problem der Post, aber als gut sichtbare Höhendominante erfüllte er auch den Wunsch der Regierung nach einer modernen Stadtkrone. Man musste ihn nur vom Friedrichshain weg in das Stadtzentrum rücken, seine Gestalt veredeln und schon hatte man den gewünschten Effekt. Ulbricht war begeistert. Bei der Ausstellungseröffnung trat der Staatschef an das Stadtmodell, nahm den Turm von seinem Platz am Friedrichshain und setzte ihn mit dem Worten ins Stadtzentrum: „Hier, Genossen, das sieht doch jeder, hier gehört er hin.“
Mit der Ausführung des Projektes wurde das Planungsbüro des VEB Industrieprojektierung Berlin beauftragt. Dort hatte man Erfahrung mit der Errichtung von Industrieschornsteinen. Die Gesamtleitung für den Fernsehturm wurde dem Präsidenten der Bauakademie Gerhard Kosel übertragen, der später abgelöst wurde. Unter seiner Ägide arbeiteten die Industrie-Architekten Fritz Dieter, Günther Franke und Werner Ahrend daran, einen attraktiven Sendemast zu entwerfen. Der Turm verjüngt sich von einem Durchmesser von 16 Metern am Grund auf neun Meter in der Höhe. Genial ist die Idee der Kugel in 200 Metern Höhe. Sie macht aus dem technischen Bauwerk ein ästhetisches Gebilde. Im Innern beherbergt sie auf 203 Metern eine Aussichtsplattform und auf 207 Metern ein Cafe. Die Gesamthöhe des Turmes betrug bei der Fertigstellung 365 Meter, seit 1995 ist er gewachsen. Seine Antenne wurde 1995 bei der technischen Überholung des Gebäudes durch die Telekom um drei Meter verlängert. Das Bauwerk wiegt 26 Tausend Tonnen, die im sandigen Untergrund der Stadt verankert werden mussten. Der Nirostastahl für die Kugel konnte nicht in der DDR hergestellt werden. Er stammt aus den Stahlwerken der Südwestfalen AG Dillenburg.
Mit der Montage einer Kugel in luftiger Höhe hatten die Architekten keine Erfahrung. Das riesige Stahlskelett der Kugel, 32 Meter im Durchmesser, wurde deshalb am Boden zusammengebaut, eine Generalprobe zu Füßen der Marienkirche zwischen Neuem Markt und Rotem Rathaus. Die Berliner hatten eine Attraktion. Am 29. März 1968 schwebte das erste Teilstück der Kugel an seinen Platz in 200 Meter Höhe. Die Prozedur dauerte 20 Minuten. Schritt für Schritt musste jedes Teilstück angepasst werden. So entstanden sieben Etagen. Nach acht Monaten war die Montage der Kugel beendet.
Als die Sonne auf die Kugel fiel, leuchtete ein sakrales Zeichen für alle sichtbar über der Stadt. Und schon erfand der Volksmund einen Spitznamen: „Sankt Walter“. Ganz Berlin lachte. Da half auch nicht, dass findige Genossen das Kreuz in ein Pluszeichen für den Sozialismus umdeuteten. Ein Pluszeichen für modernes Bauen war der Berliner Fernsehturm allemal. Pünktlich zum 20. Jahrestag der DDR im Oktober 1969 wurde der Turm eröffnet, nach einer Bauzeit von nur vier Jahren.
Streit entbrannte um die Urheberschaft der Kugel. Jeder der beteiligten Architekten Fritz Dieter, Günther Franke und Werner Ahrend vom VEB Industrieprojektierung nahm für sich in Anspruch, Ideengeber gewesen zu sein. Auch Hermann Henselmann meldete seine Rechte an. Er hatte am „Turm der Signale“ 1959 als erster die Kugel präsentiert. So kommt es, dass der Fernsehturm nicht nur eine kuriose Geschichte, sondern auch viele Väter hat.
Unmut über den ungeliebten Turm, der die untergegangene DDR überlebte und die Stadtmitte dominiert, lässt gewisse Architektenkreise nicht zur Ruhe kommen. Ab und an lancieren sie Pläne zu seiner Verdeckung mit Hochhäusern. Doch eine Beklotzung wie am Potsdamer Platz ist bisher nicht gelungen. Daher versucht man es mit kleinen Schritten. Tritt man aus dem Bahnhof Alexanderplatz und wendet sich dem Turm zu, verstellt eine Shoppingmeile die Sicht auf ihn und seine Fußumbauung mit der angrenzenden Parkanlage, einschließlich der Wasserbecken bis hin zum Neptunbrunnen. Einst war es ein städtebauliches Gesamtensemble, das am Palast der Republik endete. Bald schon wird dort das Hohenzollernschloss auferstehen. „Sankt Walter“ grüßt fröhlich hinüber.
Schlagwörter: Berliner Fernsehturm, DDR, Hermann Henselmann, Renate Drommer, Walter Ulbricht