von Frank-Rainer Schurich
Das Wort Abstand in den Bedeutungen Entfernung oder Verzicht ist seit dem 15. Jahrhundert bezeugt. In den früheren Jahren der Fotografie brauchte man einen gehörigen Abstand, um selbst (mit) auf das Bild zu kommen. Dazu wurde der Selbstauslöser erfunden, und heute kennen wir diese Prozedur nur noch aus alten Filmen: Die Kamera ruhte auf einem Stativ, der Fotograf drückte den Selbstauslöserknopf und sprintete slapstickartig zur schon aufgestellten Gruppe, um sich mit aufs Bild zu bannen. Oft nicht sehr vorteilhaft.
Dass man sich zu früheren Zeiten mittels dieser allein fotografierte, war dagegen schon die Ausnahme. Dass es dabei auch Unfälle gegeben hat, zeigt das folgende Beispiel.
Vor sehr vielen Jahren wurde ein 50-jähriger Gutsverwalter über zwölf Monate vermisst. Auf einer einsamen Waldlichtung bemerkte ein aufmerksamer Wanderer an einer Kiefer in einer Höhe von 2,90 Metern zusammengeknotete Stricke, Filzstreifen und Gummibänder, dann schaute er nach unten. Da lag ein Skelett. Gegenüber standen, vier Meter entfernt, eine alte Voigtländerkamera mit Selbstauslöser und ein Fahrrad mit der Bekleidung des Betreffenden. Die entwickelte Agfaplatte schließlich ergab, dass der Tote seinen eigenen Erhängungstod fotografiert hatte, der allerdings offenbar nicht als solcher intendiert war, denn in der Brieftasche des Verstorbenen fand man mehrere Fotos, die ihn ebenfalls nackt an einem Baum in einer Erhängungssituation darstellten. Das wies auf sexuell motivierte Selbststrangulation hin. Aber dieses Mal war die Sache aus dem Ruder gelaufen. Die Leiche war dann durch die Waldfauna zerstört worden, vom Baum gefallen und skelettiert. Der berühmteste DDR-Gerichtsmediziner mit österreichischem Pass, Otto Prokop, hat uns diesen autoerotischen Unfall überliefert, der immer dann eintreten kann, wenn man es mit der Selbstbefriedigung übertreibt.
Durch den technischen Fortschritt ist der Abstand bei der Selbstfotografie so klein geworden, dass mit modernen Funktelefonen auf Armeslänge mit der eigenen Hand fotografiert werden kann. Selfie heißt diese neue Form der Selbstdarstellung. In den 1970er Jahren, als in deutschen Landen Englisch in Mode kam, nannte man – passend zum obigen Fall – zunächst nur die Masturbation verhüllend Selfie. Dieser Sprachgebrauch hat sich verloren, seit der fotografische Selfie-Wahn über die Menschheit kam. Dabei können die Folgen in Einzelfällen durchaus aber ebenfalls verheerend sein.
So hatten kürzlich zwei Mädchen aus Kitzingen in Unterfranken, 12 und 13 Jahre alt, ihr junges Leben aufs Spiel gesetzt, als sie für ein Selfie längere Zeit auf den Gleisen der Bahnstrecke Würzburg-Nürnberg posierten. Im konkreten Abschnitt fahren die Züge mit 110 Stundenkilometern! Die von der Bahn alarmierten Einsatzkräfte von Bundes- und Landespolizei beendeten das gefährliche Spiel. Die beiden Mädchen erklärten anschließend, sie hätten die Fotos in Internet-Netzwerken posten wollen.
Ein Teenager aus den USA wollte Anfang September 2015 ein Selfie mit einer Pistole schießen, was ihn aber das Leben kostete. Er erschoss sich aus Versehen beim Posieren mit der Waffe. Der junge Mann habe gedacht, die Waffe sei nicht geladen, sagte ein Polizeisprecher dem Houston Chronicle zufolge. Der Schuss traf den 19-Jährigen in den Hals.
Beim Selfie-Knipsen im August 2014 ist ein Ehepaar aus Polen in Portugal vor den Augen seiner beiden Kinder in den Tod gestürzt. Das Unglück geschah am 140 Meter hohen Felsencap Cabo de Roca am Atlantik rund 40 Kilometer westlich von Lissabon. Die Kinder, ein sechsjähriges Mädchen und ein fünfjähriger Junge, mussten psychologisch betreut werden.
Für Kriminalisten, wenn sie keine Selfie-Leichen entdecken, können Selbstporträts aber ein Glücksfall sein, weil damit gegebenenfalls Missetäter zügig ermittelt werden können. So hatten zwei Straßenräuber in Düsseldorf, ebenfalls im September 2015, Selfies am Tatort hinterlassen. Das Duo überfiel nachts einen britischen Touristen und warf ihn zu Boden. Bei Tageslicht wurde am Tatort ein Handy entdeckt, auf dem sich diverse fotografische Selbstporträts befanden. Das Opfer erkannte seine beiden Peiniger sofort wieder, und auch der Polizei waren die Gesichter der 16 und 24 Jahre alten Verdächtigen vertraut. Fahnder konnten das Duo aufspüren und festnehmen.
Der Kriminalist Wolfgang Raeke berichtete von einem ähnlichen, aber nun schon historischen Fall. Anfang der 1990er Jahre stieg ein Einbrecher-Trio in Frankfurt an der Oder in ein Bürogebäude ein und machte fette Beute. Der Tatort war ein Albtraum für die Kriminaltechniker. In den Büros lagen die Inhalte der Schreibtische und Schränke auf dem Fußboden verteilt. Bei der systematischen Untersuchung wurden aber zwei Polaroid-Bilder gefunden. Auf einem der Bilder grinsten zwei Jugendliche die Betrachter an, und auf dem nächsten Bild strahlte das lächelnde Gesicht eines weiteren jungen Mannes bei seiner „nächtlichen Arbeit“ – mit einem Brecheisen in der Hand.
Die Ganoven hatten sich im Büro selbst fotografiert, waren aber mit der Polaroid-Fotografie überhaupt nicht vertraut, so dass sie die noch nicht entwickelten Bilder achtlos auf den Schreibtisch warfen. Schließlich war darauf nichts zu sehen, und sie wussten nicht, dass das soeben Fotografierte nach einiger Zeit wie durch Zauberhand erschien. Ein paar Wochen später wurden in Schwerin Polaroid-Bilder vom Täter nach einem Einbruch im Papierkorb eines Fotogeschäfts gefunden … „Lache nie über die Dummheit der anderen. Sie ist deine Chance“, hätte Winston Churchill zu diesen Fällen gesagt.
Da das Selfieren (das Schießen von Selfies) als neue Form der digitalen Selbstbefriedigung nicht mehr aufzuhalten ist, sollte man wenigstens an gefährlichen Orten (auf Klippen, Hochhäusern, an Tatorten et cetera) Abstand halten oder besser ganz Verzicht üben.
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