von Hajo Jasper
Das Projekt Europa befindet sich in schwerer See, dies zu bestreiten wäre hirnrissig. Allerdings auch, den Ausgang dessen voraussagen zu wollen, was sich derzeit vollzieht; immerhin ist Geschichte offen, wie wir allein aus der jüngeren und eigenen Vergangenheit hätten lernen können. Dennoch geht es für uns Zeitgenossen nicht ohne zumindest den Versuch ab, sich ein Urteil über das zu bilden, was einen umgibt und auf unsereinen Einfluss nimmt. Unternimmt man solche Versuche, scheint es indes angeraten, – wie in anderen Fällen und bei anderen (politischen) Gegenständen auch – den Lauf der Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten – keineswegs alternativ, sondern vielmehr komplementär, also ergänzend.
Aus der Froschperspektive des aktuellen Beteiligtseins stellt sich Europa – sehr knapp gefasst – derzeit etwa so dar: Die rasche Erweiterung der EU nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus war politisch positiv konnotiert, die damit ebenso rasch erstrebte sozialökonomische Angleichung bei der gegebenen Unterschiedlichkeit der Voraussetzungen indes nicht wirklich realisierbar, zumal die seit 2008 lange grassierende kapitalistische Wirtschaftskrise einem Annäherungstrend zuwiderlief und die Niveauunterschiede eher vergrößert hat. Das Ergebnis, Wirtschaftsrückgang und soziale Verelendung, schüttelt gleich mehrere EU-Staaten, auch langzeitige Mitglieder. Der faktische Ruin Griechenlands ist von alledem nur die Spitze – ein Fest für Bescheid Wissende und Überzeugte all überall und auch auf allen Seiten; so oder so: Europa scheitert.
Die Vogelperspektive hingegen macht auch andere Deutungen möglich. Sie überschaut nicht nur räumlich mehr sondern auch zeitlich, ordnet das aktuelle und mittelfristig absehbare Geschehen also ein in historische Erfahrungen ein. Und solcherart Betrachtung angewandt, kann man denn auch zu anderen Ergebnissen kommen: Das erstrebte Europa vereinigter Staaten ist ein einzigartiges Projekt in der Geschichte dieses Kontinentes. Kriege zumindest innerhalb seiner Mitgliedsländer sind – zumindest bisher – ausgeschlossen, eine absolut neue Qualität zwischenstaatlicher Beziehungen kapitalistischer Staaten. Bei allen Einschränkungen – auch ein Solidarprinzip hat sich entwickelt, wie es das zuvor so nie gab. Und auch die einstigen Nationalismen – freilich auch hier wieder samt diverser Gegenläufigkeitserscheinungen – sind geringer geworden Millionen Europäer sind sich näher gekommen denn je. Näher jedenfalls, als es jedweder sozialistische Bruderbund je vermocht hat. Das alles ist freilich noch höchst unvollkommen und in nicht geringen Teilen auch ein widersprüchlicher Prozess. Wie einst der Versuch, sozialistische Ambitionen zu realisieren, ist aber auch die Schaffung eines geeinten Europas der 28 Nationen ein unerprobter Schöpfungsakt, verbindliche Regeln dafür kennen nur Ideologen mit ihren jeweiligen „Gesetzen“, Reflexen und Affekten.
Es braucht bei einer solchen Betrachtungsweise also Langmut, um zu erkennen, dass hier etwas vor sich geht, was zumindest in Europa einmalig und noch immer hoffnungsvoll ist. Natürlich auf weite Sicht. Denn freilich lassen sich nationale Egoismen nicht wegdekretieren (oder wie in sozialistischen Bündniszeiten verschweigen). Und natürlich versuchen politische Kräfte ihre Süppchen zu kochen, solange es politische Lager und deren jeweilige ökonomische Grundierungen gibt. Sie einfach in einer „nationalen Front“ einem Parteienpräzeptor unterzuordnen wie im Realsozialismus (dort, wo noch verschiedene Parteien geduldet waren) ist unter den Maßgaben der Demokratie nicht machbar – auch wenn deren realem Dasein noch so viel Mangelhaftigkeit und Widersprüchlichkeit nachgesagt werden kann.
Dies alles, das neue Europa als Verbund von Völkern unter gemeinsamen Grundwerten, wird sich entwickeln, es wird dabei knirschen, es wird Rückschläge geben, Fehlentscheidungen, es werden Vorschnelle, Bremser, Versager im Spiel sein und Radikale, – es wird also Menschenwerk bleiben, was da als historischer Prozess läuft. Schon deshalb soll hier aber auch nicht irgendeinem Fatalismus das Wort geredet werden. Mittun ist allemal vonnöten, Druck auf jene, die den Kontinent erpresserisch zu dominieren suchen, inklusive. Deutschen Linken bietet sich gerade hier ein sehr spezielles Betätigungsfeld des Widerstandes, es sei denn sie zählen zu jenen Gegnern dieses Europa, die das Gebilde ablehnen, da es nicht auf der von ihnen erwünschten sozialistischen Basis gründet.
Europa kann stabiler werden – das schließt aber nicht aus, dass es auch anders kommen kann, gewiss. Sollte dies so sein, dann schlägt freilich neuerlich die Stunde derer, die es dank der Froschperspektive schon immer gewusst haben, auch das ist eine verlässliche Konstante.
Da auch Vogelperspektiven je nach eingenommener Höhe und Fernsicht unterschiedlich ausfallen können, sei hier noch angemerkt, dass jenes Europa, das hier die Chance hat, zusammenzuwachsen, auf wohl noch längere Zeit ein marktwirtschaftlich geprägtes, also kapitalistisches ist. Das freilich schränkt seinen sozialen und kulturellen Nutzen für viele Menschen deutlich ein. Schon deshalb kann und wird mit einem befriedeten und sozialökonomisch stabilen Europa, kommt es denn zu einem solchen, noch nicht das Ende seiner Entwicklung erreicht sein. Ein wirklich soziales, gerechtes und dauerhaft friedliches Europa zu schaffen, wird dann also grundlegende Wertewandel erfordern, wie immer das, was daraus hervorgehen wird, einmal aussehen mag.
Nur eben – soll sich das entwickeln, bedarf es dafür grundlegender Voraussetzungen. Es mit revolutionärer Attitüde möglichst schon heute herbeirufen und -fordern zu wollen, zeugt von jenem linken Kleingeist, der schon so oft, und auch heute wieder im betrüblichen Gegensatz zum selbstreferentiellen Durchblick steht.
Sisyphos mit seiner Aufgabe, den Stein bergan zu einem Höhe-und Endpunkt zu rollen, wird nie final entlastet sein, ein soziales Eden auf Erden eine Phantasie bleiben. Was Europa betrifft, so kann es aber auch sein, dass alles in einem neuen Desaster endet – die Geschichte, das sei hier wiederholt, ist offen. Das Einzige, worauf sich vielleicht hoffen lässt, ist die wohl zwangsläufige wachsende Erkenntnis von immer mehr Menschen, dass sich die globalen und sie also alle betreffenden Probleme dieser immer enger zusammenwachsenden Welt nur durch ein gemeinsames vernünftiges Handeln bewältigen lassen. Nicht ausgeschlossen, dass für diese nachhaltige und umfassende Erkenntnis neuerliche schwere Krisen nötig sein werden; der Mensch lernt mehrheitlich leider nur aus solchen, und selbst das bisher auch nur mit einer begrenzten Halbwertszeit.
Aber anders wird es wohl nicht gehen. Wie hat doch Camus so optimistisch gesagt: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“. Oder Goethe: „An unmöglichen Dingen soll man selten verzweifeln, an schweren nie.“
Schlagwörter: Entwicklung, Europa, Hajo Jasper, Krise