18. Jahrgang | Nummer 17 | 17. August 2015

Erlesenes – Deutsch-Südwest, Karl Kraus und ein Buch von der Ehre

von Günter Hayn

Der preußische Regierungsbaumeister Joseph Bendix, 1874 in Dülmen/Westfalen als Kind einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, fiel in einem Gefecht mit den aufständischen Hereros am 13. März 1904 bei Ovikokorero im heutigen Namibia. Ihm gelang als einem der wenigen deutschen Juden der „Aufstieg“ zum begehrten Reserveoffiziersrang, dem Entrèebillett in die „besseren Kreise“ des Reiches. 1899 wurde er zum Leutnant der Reserve des 1. Königlichen Pionierbataillons befördert. Allerdings des Königreiches Bayern – in seiner Heimat Preußen wäre ihm dies kaum gelungen. Joseph Bendix ging im Februar 1899 als Diplom-Ingenieur von der Technischen Hochschule Charlottenburg ab. Als Regierungsbaumeister der Königlich Preußischen Eisenbahn ließ er sich 1903 beurlauben, um am Bau der Otavi-Bahn in Deutsch-Südwestafrika mitzuwirken. Die Bahn sollte dem Abtransport des Kupfererzes der Minen von Tsumeb nach Swakopmund dienen.
Deutsch-Südwest muss – sein Biograph Hartmut Bartmuß zitiert aus den Briefen – für den jungen Bahn-Ingenieur ein Kulturschock gewesen sein: „Negerdörfer unbeschreiblich […] Gestank unerträglich.“ Oder: „Die Neger hier sind überhaupt ein ziemlich verlottertes Gesindel, sie lügen und stehlen.“ Hier äußert sich der übliche deutsche Alltagsrassismus des Kaiserreiches. Anders sah er die Europäer: „Die hier wohnenden Deutschen sind fast ausnahmslos nette Leute. Ich bin hier überall mit außerordentlicher Liebenswürdigkeit aufgenommen worden.“ Überall wohl nicht, der Autor berichtet auch von Problemen, denen Bendix während seines Einsatzes seitens der Kollegen ausgesetzt war. Inwieweit diese antisemitischen Grundeinstellungen oder nur „normalem“ Konkurrenzverhalten geschuldet waren, ist sicherlich nicht mehr eruierbar. Wenn die Zeitschrift des Centralvereins Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens in ihrem Heft 11/1910 schreibt, dass „von Antisemitismus […] in der Kolonie wenig zu spüren“ sei, scheint mir hier eine sehr verklärende Weltsicht die Feder geführt zu haben. Bartmuß zitiert auch die schriftstellernde Missionarsfrau Hedwig Irle, die eine Begegnung mit der deutsch-jüdischen Farmersfrau Abraham beschreibt, der die Zuwendung durch Frau Ihrle „sichtlich wohl“ tat – „sie hatte oft gelitten unter der Mißachtung, die sie als Jüdin von manchen erfuhr.“
Bendix wurde mit Ausbruch der Herero-Aufstandes als Reserveoffizier im Januar 1904 zur deutschen Schutz-Truppe einberufen und mit Instandhaltungsarbeiten an der Bahnstrecke beauftragt. Er beteiligte sich durchaus aktiv am ersten deutschen Völkermord: „Ab und zu nehmen wir auch einige Hereros gefangen, die dann an einem Baum in Karibib aufgehängt werden.“ Im März 1904 wird Joseph Bendix einer Erkundungseinheit zugeteilt. Diese geriet in einen Hinterhalt und wird aufgerieben. Bestattet wurde er mit acht seiner gefallenen Kameraden in einem Gemeinschaftsgrab bei Ovikokorero. Auf dem Gedenkstein steht irrtümlicherweise der Name seines Bruders Albert. Der brachte sich allerdings selbst um: 1940, vor der Deportation.
Hartmut Bartmussens Buch ist ein Beleg dafür, dass die Herrschenden des Kaiserreiches gerne die materiellen Dienste und – wie im Falle von Joseph Bendix – das Blut der jüdischen Mitbürger in Anspruch nahmen. Dennoch: So richtig „dazugehört“ haben sie nie. Da nutzte auch das Reserveoffizierspatent wenig. Auch für die Familie des Leutnants Bendix warteten am Ende eines langen Weges Auschwitz und Treblinka.

Hartmut Bartmuß: Joseph Bendix. Regierungsbaumeister, Ingenieur und Offizier in Deutsch-Südwestafrika, Hentrich & Hentrich und Centrum Judaicum (Jüdische Miniaturen – Band 168), Berlin 2015, 100 Seiten, 9,90 Euro.

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Nein, sie gehörten nicht dazu. Sie verstanden nicht, dass ihre Ausgrenzung, ihre ganz individuell gemeinte Vernichtung der unverzichtbare Kitt einer „Volksgemeinschaft“ war, die sie, in selbstmörderischem Irrtum befangen, auch als die ihrige betrachteten. „Wir dürfen uns dadurch, dass wir heute von unseren deutschen Volksgenossen nichtjüdischen Stammes in einer Weise behandelt werden, die wir als schweres Unrecht empfinden müssen, nicht von dem geradem Weg abdrängen lassen, und dieser Weg ist die Entwicklung ins Deutschtum.“ Das wurde nach dem „Juden-Boykott“ vom 1. April 1933 aufgeschrieben – der nicht „nur“ ein Boykott war, da wurde auch schon fleißig totgeschlagen – und erschien in einem Buch unter dem Titel „Die Gräuelpropaganda ist eine Lügenpropaganda!“. Als Herausgeber zeichneten „nationaldeutsche“ Juden verantwortlich, also die verhinderten Reserveoffiziere. Ich zitiere dies aus Karl Kraus’ „Die dritte Walpurgisnacht“. Das ist das Buch, das mit dem berühmten Satz „Mir fällt zu Hitler nichts ein“ eingeleitet wird. Kraus hatte Recht: Wem nicht gerade die Erregungshärchen angesichts einer Begegnung mit des Führers Leib-Schnürsenkelzubinder senkrecht stehen, dem kann zu Hitler auch nichts einfallen. Aber zu denen, die Adolf Hitler intellektuell für eine Vielzahl von Deutschen und Österreichern tragbar machten, fällt ihm desto mehr ein. Kraus spricht von „Worthelfern der Gewalt“. Gemeint sind zum Beispiel Martin Heidegger, der „seinen blauen Dunst dem braunen gleichgeschaltet“ habe. Er spricht von Oswald Spengler, dem sein Bekenntnis zu glauben sei: „Niemand konnte die nationale Umwälzung dieses Jahres mehr herbeisehnen als ich.“ Und gemeint ist vorzüglich Gottfried Benn. Benn, der im Machtwechsel „eine neue Vision von der Geburt des Menschen“ – unter dem machte es der alte Zyniker nicht – sah, „vielleicht […] die letzte großartige Konzeption der weißen Rasse, wahrscheinlich um eine der großartigsten Realisationen des Weltgeistes überhaupt“. Fast sprachlos scheint Kraus angesichts der Schwärmerei „der Köpfe für die Kopfjäger“. Aber sein monatelanges Schweigen angesichts des Ausbruches der braunen Barbarei – „Als das dritte Reich gegründet war / kam von dem beredten nur eine kleine Botschaft. / In einem zehnzeiligen Gedicht“, beklagte Bertolt Brecht das vermeintliche Abtauchen des streitbaren Publizisten – mündete in ebenjener „Walpurgisnacht“, die der Autor selbst kurz vor der Veröffentlichung zurückzog, um Dritte in Deutschland nicht zu gefährden. Der Band erschien erstmals 1952. Jetzt wurde er wieder im Verlagshaus Römerweg vorgelegt. All die publizistischen Reinwaschungsversuche der Paladine des Dritten Reiches und ihrer servilen Knechte, egal ob sie Richard Strauß oder Wilhelm Furtwängler hießen und „nur“ einen auf Kultur machten, bekommen einen schalen Beigeschmack, wenn man sich parallel mit den zornigen Analysen von Karl Kraus auseinandersetzt. „Wir haben nicht die geringste kriegerische Absicht“, zitiert er den Dr. Goebbels. Doch, hatten sie. Und als viele es endlich bemerkten, da war es zu spät. Wenn man aus einem Buche etwas über das Heutige für die Abwehr morgigen Unbills lernen kann, dann aus diesem.

Karl Kraus: Die dritte Walpurgisnacht, Marix Verlag, Wiesbaden 2015, 304 Seiten, 15,00 Euro.

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Wolfram Wette gehört zu den  Militärhistorikern, die sich seit Jahrzehnten kritisch mit der (bundes-) deutschen Militärgeschichtsschreibung auseinander setzen. Der Donat-Verlag legte jetzt eine Sammlung seiner Texte vor, die eines eint: Sie setzen sich mit dem Umgang mit dem braunen Erbe in der Geschichte der BRD auseinander. Jahrzehntelang wurde den Mördern und ihren Helfershelfern hofiert, der aktive Widerstand stand immer irgendwie im Geruch des Landesverrates. Erst als die Tätergeneration sich gleichsam aus biologischen Gründen aus den Amts- und Richterstuben zurückziehen musste, konnte das braungrundierte offizielle Geschichtsbild Stück für Stück korrigiert werden. Wette belegt dies an zahlreichen Einzelschicksalen von Tätern, Opfern und Widerständlern. Vor allem der aktive Widerstand von im Schatten der „großen Geschichten“wirkenden Menschen hat es ihm angetan. Alexander Schmorell, Anton Schmid, Karl Plagge und Wilm Hosenfeld sind nur einige Namen, denen Wette Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte. Und er widmet sich ausführlich dem Widerstand in den Reihen der Wehrmacht, der mit den Begriffen „Desertion“ und „Kriegsverrat“ verbunden ist. Wolfram Wettes Fazit ist aufschlussreich: „In gar nicht so wenigen Fällen war der Widerstand des ‚kleinen Mannes’ sogar erfolgreich – jedenfalls erfolgreicher als das gescheiterte Attentat des 20. Juli 1944.“ Wettes Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen. Es gehört in jede deutsche Schulbibliothek. Ein Manko hat es allerdings: Die Forschungen in der DDR zum Widerstand scheinen für den Autoren nicht zu existieren. Zumindest die Arbeiten Kurt Finkers zu Stauffenberg und seinem Umfeld muss er kennen. Weshalb das Nationalkomitee „Freies Deutschland“ und der „Bund Deutscher Offiziere“ sowie das Bemühen von Menschen wie Gerhard Zwerenz oder Heinrich Graf von Einsiedel um die Rehabilitierung ihrer Kameraden kaum Erwähnung finden, erschließt sich zumindest dem ostdeutschen Leser nur schwer.

Wolfram Wette: Ehre, wem Ehre gebührt! Täter, Widerständler und Retter 1939 – 1945, Donat Verlag, Bremen 2015, 334 Seiten, 16,80 Euro.