von Alfons Markuske
Das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa wird üblicherweise auf den 8. Mai 1945 datiert, als Vertreter Deutschlands in Berlin-Karlshorst die bedingungslose Gesamtkapitulation unterzeichneten, und im Fernen Osten auf den 2. September, als Japan ein Gleiches tat. Die Sieger feierten. Entweder mit Pathos wie bei der Großen Parade auf dem Roten Platz in Moskau oder eher ausgelassen wie im Konfettiregen in den Straßen New Yorks, um nur zwei ikonografische Fotomotive aus jener Zeit in Erinnerung zu rufen. Und dann begannen Sieger wie Besiegte mit dem Wiederaufbau. Europa erhob sich, so eine im Westen gern gebrauchte Formulierung, wie Phoenix aus der Asche, und im Osten des Kontinents, so dessen Selbstdarstellung bis zum Ende des Realsozialismus, wurde die Zukunft der Menschheit nach sowjetischem Vorbild eingeläutet.
Mancher auch hierzulande weiß zwar, dass nicht überall sofort zur Tagesordnung übergegangen werden konnte. In Griechenland etwa ging die deutsche Besatzung praktisch nahtlos in einen grausamen Bürgerkrieg über, der sich bis 1949 hinzog. Dass aber praktisch nirgendwo in den vorherigen Kriegsgebieten sofort zur Tagesordnung übergegangen werden konnte, weil, um nur bei Europa zu bleiben, allenthalben Chaos, Anarchie, Gewalt, Hunger, Elend sowie vielerorts Terror herrschten, dürfte vielen, wenn nicht den meisten, so nicht bewusst sein. Ethnische und andere Konflikte bis hin zu Bürgerkriegen auch in Polen und Jugoslawien sowie bürgerkriegsähnliche Zustände im Baltikum und in der Ukraine dauerten teilweise bis Mitte der 1950er Jahre an.
Den eigenen Kenntnisstand kann jeder Leser schon in der Einleitung des Buches „’45. Die Welt am Wendepunkt“ des anglo-niederländischen Schriftstellers und Journalisten Ian Buruma überprüfen, wenn der die Phantasie von uns Heutigen herausfordert: „Versuchen Sie sich eine Welt vorzustellen, in der es keine Institutionen gibt. […] Es gibt keine Verwaltungen mehr, weder nationale noch lokale. Es gibt keine Schulen und Universitäten […]. Die Menschen haben keinerlei Zugang mehr zu Informationen. Es gibt keine Kinos oder Theater […]. Eine Zeitung hat seit Wochen niemand mehr in der Hand gehabt. Es fahren keine Züge oder Autos, man kann weder telefonieren noch Telegramme verschicken […]. […] Es gibt keine Läden, denn niemand hat irgendetwas zu verkaufen. Es wird nichts mehr produziert […]. Es gibt keine Werkzeuge außer denen, die man im Schutt findet. Es gibt keine Nahrung. Recht und Ordnung existieren praktisch nicht mehr […]. Wer etwas besitzen darf, hängt davon ab, wer der Stärkere ist und es mit seinem Leben verteidigen wird. Bewaffnete Männer ziehen durch die Straßen, nehmen sich, was sie wollen, und bedrohen jeden mit dem Tod, der sich ihnen in den Weg stellt. Frauen aus allen Gesellschaftsschichten und jeden Alters prostituieren sich für Nahrung und Schutz.“ Und um hier nur eine Zahl zu nennen: Bei Kriegsende gab es allein in Deutschland mindestens 17 Millionen Entwurzelte – Ausgebombte, geflohene Deutsche aus den Ostgebieten, befreite KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene, ausländische Zwangsarbeiter, die meisten von ihnen ohne oder fast ohne Hab und Gut –, die unterzubringen, zu ernähren zu kleiden und großenteils zu repatriieren waren.
Wie die Realität in Europa und den asiatischen vorherigen Kriegsregionen nach der jeweiligen Beendigung der Kampfhandlungen (in Süditalien zum Beispiel schon im Herbst 1943) und in den Folgejahren insgesamt war, davon geben sowohl Buruma als auch der britische Historiker und Autor Keith Lowe mit seinem Werk „Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943 – 1950“ eine ebenso umfassende wie detailreiche und in beiden Fällen dank trefflicher Übersetzungen gut lesbare Vorstellung. Die existenzielle Dramatik dieser Periode brachte Buruma an anderer Stelle, in einem Beitrag für die DIE ZEIT, folgendermaßen auf den Punkt: „[…] Millionen Menschen stand das schlimmste Elend noch bevor: Vergewaltigungen in den kalten Ruinen von Berlin, Hunger und Krankheit im Schutt von Tokio und Hiroshima, Kinderprostitution, Schwarzmärkte in der Hand von Kriminellen, die Aussicht auf große Hungersnot in den eiskalten Wintermonaten und so weiter.“
Die offizielle nationale Geschichtsdarstellung in praktisch allen betroffenen europäischen und asiatischen Staaten hat diese Aspekte über Jahrzehnte weitgehend ausgeklammert, jedenfalls in ihren Dimensionen und langfristigen Auswirkungen nicht annähernd adäquat widergespiegelt. Die Würdigung und Heroisierung von Wiederaufbauleistungen war als nationaler Kitt im rasch einsetzenden Kalten Krieg und nicht zuletzt auch, um die teilweise oder gänzlich unrühmliche Kriegsvergangenheit zu übertünchen, viel besser geeignet.
Auch wer sich mit dem verbreiteten Halb- und Viertelwissen, den Legenden, Mythen und Lügen über die Nachkriegszeit vertraut machen und eigene Wissenslücken schließen will, der findet in diesen beiden ausgezeichneten Büchern reichhaltige Kompendien. Die Kenntnisnahme ihrer Inhalte erscheint dem Rezensenten heute noch notwendiger als in den zurückliegenden Jahrzehnten – und zwar aus wenigsten zwei Gründen:
Einerseits, weil „Ultranationalisten in Ungarn, Kroatien, der Ukraine oder den baltischen Staaten – Männer, die sowohl während als auch nach dem Krieg wahllos Juden, Kommunisten und Liberale ermordeten – […] heute als Nationalhelden rehabilitiert“ werden (Lowe).
Andererseits, weil eine Zeit angebrochen ist, in der manche Politiker und nicht wenige Medien wieder über Krieg als ultima ratio, auch in Europa parlieren, und zwar teilweise auf eine so casino-saloppe Weise, als hätte es weder die früheren noch die gegenwärtigen Schrecken überhaupt je gegeben. Buruma bemerkte in seinem ZEIT-Beitrag sehr treffend: „Die meisten Befürworter des amerikanischen Einmarsches in den Irak oder der westlichen Intervention in Libyen hatten keine persönliche Erfahrung mit militärischen Konflikten. Es müsse nur der Diktator gestürzt werden, dann werde schon alles gut, lautete die Meinung. Aber es ist gar nichts gut, wenn einmal unvorstellbare Gewalt entfesselt wurde.“
Nicht zuletzt deshalb ist beiden Büchern eine zahlreiche Leserschaft und der Eingang in den schulischen Geschichtsunterricht zu wünschen. Ausgaben in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung könnten dazu beitragen. Diese Meinung wird hier vertreten – ungeachtet dessen, dass Buruma womöglich nicht irrt, wenn er in der Einleitung seines Buches bekennt: „Ich glaube nicht recht an die Idee, es ließe sich aus der Geschichte viel lernen, jedenfalls in dem Sinn, dass das Wissen um frühere Verblendungen ähnliche Torheiten in der Zukunft verhindern könnte.“
Einige kleinere Unstimmigkeiten und Fehler im Werk von Lowe sollten bei Neuauflagen korrigiert werden. So schreibt er, dass in „den ersten Kriegsjahren […] in Berlin jeden Tag 2000 Personen verhaftet“ worden seien. Also 730.000 per anno und das mehrere Jahre lang? An anderer Stelle heißt es, die italienischen Partisanen wollten auch eine soziale Revolution, um „die einfachen Arbeiter und Bauern wieder (Hervorhebung – A.M.) an die Macht zu bringen“. Wann sind sie dies zuvor gewesen? Zu den alliierten Militärverwaltungen der Nachkriegszeit heißt es, dass ihnen „Vertreter von vier Großmächten“ zusammenarbeiteten. Großbritannien und Frankreich bei Kriegsende Großmächte? Und schließlich darf man nach der unsäglichen jüngsten Rechtschreibreform nun zwar auch „aufoktroyieren“ schreiben, sollte es gleichwohl, da die Bedeutung im Deutschen immer noch „aufdrängen, aufzwingen“ lautet, nicht tun.
Ian Buruma: ’45. Die Welt am Wendepunkt, Übersetzung: Barbara Schaden, Carl Hanser Verlag, München 2014, 412 Seiten, 26,00 Euro.
Keith Lowe: Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943 – 1950, Übersetzung: Stephan Gebauer / Thorsten Schmidt, Klett-Cotta, Stuttgart 2014, 526 Seiten, 26,95 Euro.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Europa, Ian Buruma, Keith Lowe, Nachkriegszeit, Zweiter Weltkrieg