von Werner Richter und Heinrich Harbach
Es ist schon ein bisher unbekannter Zustand eines Wissenschaftszweiges, der ökonomischen Theorie, vollständig, einschließlich der Fundamente, in Bewegung geraten zu sein. Keine andere Disziplin der geistigen Wissenschaften hat diese Entwicklung derart tief zu überstehen – vermutlich zurückzuführen auf die Entwicklung der praktischen Ökonomie, die ja die Basis der bestehenden Gesamtgesellschaft, des Kapitalismus, direkt zu sichern hat und ihre Strategien als Theorie in den Vordergrund schob. Inzwischen haben die vielseitig kapitalverpflichteten akademischen Propagandisten des Neoliberalismus selbst die Institution der Experten im öffentlichen Raum, besonders der Medien, fast exklusiv übernommen. Die über den Umweg der Markt- und Wertrealisierung gefangene Bedarfsgüterproduktion wird dadurch pervertiert und ist in immer stärkerem Ausmaß an die systemgefährdenden Grenzen der Funktionalität gekommen. Ratlosigkeit und Hysterie und die Suche nach dem Stein des Weisen auf der Basis theoretischer Beliebigkeit, bestimmen die wissenschaftliche Diskussion. Dieser Streit um einen gangbaren Ausweg führt zu einem vorsichtigen Drehen an einer Vielzahl von Stellschrauben, leider fast ausschließlich im Stile eines Sprengmeisters, um keine vorzeitige Explosion auszulösen, aber im Gegensatz zu diesem letztendlich die Explosion verhindern zu wollen.
Einer weltweiten Gruppe von Theoretikern, die an ihrer Anbindung an Kapitaleignerkreise und deren Institutionen recht leicht zu erkennen sind, ist an der „Entmachtung“ der klassischen Ökonomie interessiert. Sie haben in erheblichem Maße mit außerökonomischen Erklärungen die Deutungshoheit der ökonomischen Vorgänge übernommen und singen das Lied dessen, des Brot sie essen. Diese Nichtökonomie feiert zurzeit fröhlichste Urstände. Piketty, aber auch die jüngste Nobelpreisverleihung, sind hier vorläufige Höhepunkte. Den theoretischen Favoriten bildet in dieser Phase der Theorie- und Massenmanipulation die Verteilungstheorie als Allheilmittel letztendlich zur Erhaltung des Kapitalismus, dem Selbstverwertungssystem des Wertes. Daher ist es durchaus logisch, der theoretischen Ökonomie die Eigenständigkeit als Wissenschaft abzusprechen. Diese Bestrebungen sind nur natürlich, geht es doch ans Eingemachte, die gesellschaftliche Macht des Kapitals. Da werden die wissenschaftlichen Erklärungen der Ursachen der gesellschaftlichen Entwicklung zum Störfaktor, denn es gilt strategisch, die Herrschaft des Kapitals trotz der dynamisierten Dysfunktionalität des Systems in neue Machtmechanismen zu retten, dabei den neuen Gesellschaftsstrukturen das demokratische Mäntelchen zu erhalten. Auf Blut und Dreck wird strahlende Farbe gesprüht. Zu diesem Behufe unterhalten die Finanz- und Industriekonzerne mit viel Aufwand, der aber selbstverständlich durch die Allgemeinheit zu tragen ist, eine Armada von Thinktanks und Instituten, um Politik und Öffentlichkeit zu beherrschen. Die Bertelsmann-Stiftung lässt grüßen.
Eigenartigerweise akzeptieren kapitalismuskritische und besonders sich als links verstehende Ökonomen die Kapitalinteressen stützenden Theorien unkritisch und versuchen, im Gesang der Kapitalismusanbeter mitzuhalten. Für die passende Stimmlage ordnen sie zunächst ihren Marx zweckmäßig ein. Er wird hochgelobt, allerdings als verdienstvolles historisches Phänomen, dem aber kaum noch aktuelle, höchstens partielle Bedeutung zugesprochen wird. Der alte Marx ist für sie ein Toter, ohne dass sie dies explizit darlegen zu müssen.
Grotesk wird es dann, um der Darstellung eigener hoher Intellektualität willen, anstelle von Marx noch viel ältere Theoretiker als Zeugen und damit überwunden geglaubte Irrtümer zu bemühen, also weit hinter Marx zurückzugehen, um sich im Chor zu halten. Der Widerspruch, zu Marx’ Zeiten schon desavouierte Theoretiker wieder zu etablieren wie Mill oder Proudhon, wird dabei geflissentlich übersehen. Bleibt noch die spannende Frage, ob und wann uns dann wieder Nostradamus die Welt erklären wird. So runderneuert kann auch der gestandene „Marxist“ mitsingen. Er ignoriert auch das Fazit klassischer Ökonomen, den Fehler des Einlassens auf modernistische Wirtschaftstheoreme begangen und nicht die grundsätzliche Diskussion weiterbetrieben zu haben.
Als Folge dieses Grundfehlers mussten die Fundamente der Wirtschaftstheorie daran glauben und die ökonomische Diskussion erfolgt zunehmend mit beliebigen Kategorien und ohne genaue Definitionen. Aktueller Höhepunkt ist Piketty Superstar. Unter diesen Verbiegungen lässt sich dann das Hohelied der Marktwirtschaft singen, sie muss nur irgendwie sozialistisch werden, ungedenk der bösen Erfahrungen. Ja nicht die Marktwirtschaft an sich in Frage stellen, man käme in Kollision mit den werten Kollegen von der anderen Seite. Irgendwie muss man sich ja in den Chor einpassen. Dass jede Marktwirtschaft ein dysfunktionales System ist, welches Spekulation und Krise erzeugt, ist die wissenschaftliche Erkenntnis von Marx. Das ist in seinen „Grundrissen“, im „Kapital“ und anderswo nachzulesen. Das ist weiterhin tabu, wie schon zu realsozialistischen Zeiten. Er passt ja auch heute nicht in ein Wirtschaftsmodell wie das der „sozialistischen Marktwirtschaft“, das eine zentralistische Konzeption und Realisierung der neuen Gesellschaft vorsieht. Verbirgt sich dahinter nicht der Unglaube an Vernunft und Kraft der Menschen, die Möglichkeit einer von unten auf Basis absoluter Freiwilligkeit und ohne Bereicherungs-, sondern ausschließlich für Bedürfnisinteressen, entstehenden Gesellschaft?
Dieser alte Unglaube war grundlegender Ausgangspunkt aller bisherigen Revolutionstheorien und -praktiken! Man kann dies heute ablesen an der Resignation vor den Stärkeren: Der Kapitalismus und damit das Warensystem hat gewonnen und seine Überlebensfähigkeit bewiesen. Aber kann ein derart profaner, nichtökonomischer Ausgangspunkt Basis einer ernsthaft alternativen Wirtschaft zum Kapitalismus sein? Haben die beteiligten Ökonomen – Marx fleißig zitierend – diesen vollständig und überhaupt begriffen? Sehr zweifelhaft.
Die Aktivisten der nichtmarxistischen Kapitalismuskritik, in NGO’s, Parteien und Foren beheimatet, greifen die These der Nichtnotwendigkeit der ökonomischen Wissenschaft gern auf. Ihnen genügt nach eigenem Bekunden der gesunde Menschenverstand. Das erspart ihnen die Mühe der ernsthaften Beschäftigung mit der Theorie und kommt ihrem Aktionismus entgegen. Sie meiden auch gern die Diskussion über Theorie. Dafür singen sie fromm nach Gusto zum Scheitern des Chores. Ihre Aussicht ist die Verausgabung von viel Energie ohne Wirkung. Die „Grünen“ winken von Ferne.
Aus schon früher dargelegten Gründen wurde der Diskurs zum Thema hier im Blättchen nicht intensiviert und so das Feld den unterschiedlichsten Theorien überlassen, nur vereinzelt im Forum widersprochen. Nichtsdestotrotz besteht die Aufgabe weiterhin, die ignorierten Grundaussagen von Marx in den Diskurs und somit das Denken der Gesellschaft zu bringen.
Schlagwörter: Heinrich Harbach, Marktwirtschaft, Marx, Werner Richter, Wirtschaftstheorie