von Wolfgang Klein
Eine ältere Zeitgenossin fragte sich und mich neulich: „Wo sind die Intellektuellen heute? Gibt es diese noch, wie damals 1935, als alle nach Paris eilten, im Sinne von Julien Benda: ‚Das Gesetz des clerc lautet – selbst dann, wenn das ganze Universum vor dem zur Weltherrschaft gelangten Unrecht in die Knie fällt – aufrecht zu bleiben und ihm das menschliche Gewissen entgegenzuhalten.’“
Nun steht es nicht so, dass sich die Feststellungen über den Tod des Intellektuellen erfüllt hätten, die sich zu Beginn der 1980er Jahre zu verbreiten begannen. Damals hielten Philosophen in Frankreich – wo der Intellektuelle knapp hundert Jahre zuvor in der Dreyfus-Affäre erfunden worden war – sein Ende für gekommen, weil das menschliche Wissen so umfangreich und damit unübersichtlich geworden und weil die Vorstellungen von besseren Welten als der gegebenen kapitalistischen so unübersehbar gescheitert seien. „’Intellektuelle’ sollte es nicht mehr geben“, schrieb Jean-François Lyotard 1983 gegen die Aufforderung, sie sollten die damals noch junge, aber gerade in ihre erste Krise geratende Präsidentschaft François Mitterrands stärker unterstützen. Ob dieser Präsident mit mehr Unterstützung durch Intellektuelle dem Programm, für das er gewählt wurde, stärker gefolgt wäre, kann hier dahingestellt bleiben (es lässt sich nur gerade wieder erleben, dass eine Orientierung an Wahlprogrammen, die auf soziale Krisen reagiert haben, als populistisch und ideologisch verunglimpft wird, wenn sie Prinzipien folgt, die in der angeblich objektiven, selbstverständlich überhaupt nicht ideologischen, nur eben herrschenden Ordnung von Wirtschaft und Politik nicht vorgesehen sind).
Praktisch gezeigt hat sich bis heute, dass es immer wieder Intellektuelle, also Menschen gibt, die durch ihre Arbeit und Kompetenz besondere Autorität in der Gesellschaft erlangt haben und die diesen Einfluss in politischen Kämpfen einsetzen. Im Dezember 2013 unterschrieben, um nur ein Beispiel zu nennen, 562 Schriftsteller von allen Kontinenten einen Aufruf an Staaten und Konzerne, nicht „die technologischen Entwicklungen zum Zwecke der Überwachung massiv [zu] missbrauchen“. Dass das dort eingeforderte „existentielle Menschenrecht“, in den Gedanken und Lebensräumen „frei und unbeobachtet zu bleiben“, heute – zurückhaltend formuliert – nicht stärker beachtet wird als vor diesem Aufruf, sie also nichts ausrichteten, teilen sie mit vielen anderen Intellektuellen. Dass diese von den Herrschenden zumindest dann eher beiseite geschoben werden, wenn ihre Kritik den laufenden Betrieb stört, spricht aber natürlich nicht gegen ihre Existenz und erhöht vielleicht sogar eher ihre Berechtigung (wobei sie selbst verständlicherweise lieber auf die so seltenen Erfolge verweisen: Der Kaufmann Calas war zwar schon gerädert und verbrannt, wurde aber nach Voltaires Einsatz wenigstens rehabilitiert, und der Hauptmann Dreyfus kam nach Zolas Intervention sogar wieder frei und wurde Major sowie Ritter der Ehrenlegion).
Eines ist aber wirklich seit Ende Juni 1935 weder in Paris noch anderswo mehr beobachtet worden: dass zwar nicht „alle“, aber doch viele sowohl Bedeutende als auch Verschiedene aus einundzwanzig Ländern fünf Abende und vier Nachmittage lang in einem großen Saal rund hundert Reden halten, denen Tausende zuhören und über die die Presse ziemlich ausführlich berichtet. Am Ende haben die Teilnehmer sogar noch eine internationale Vereinigung gegründet, die es auf Organisationen in achtzehn Ländern brachte. Warum ist dieses Ereignis nie wiederholt worden? Einige der Gründe könnten die folgenden sein.
Die Devise, unter der es stand, hieß „Verteidigung der Kultur“. Um deren Notwendigkeit zu beschreiben, war zunächst versucht worden, die Lage von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Technik, Literatur und Künsten nach der Weltwirtschaftskrise und dem Aufstieg des Faschismus in zahlreichen Ländern detailliert, aber auf nicht mehr als zwei Schreibmaschinenseiten zu fassen. Das lesend erklärte André Gide in einer Vorbereitungssitzung, an einem solchen Kongress würde er niemals teilnehmen, setzte sich hin und notierte – im Gespräch mit anderen Anwesenden – zwei Sätze: „Angesichts der Gefahren, die in einer Anzahl von Ländern die Kultur bedrohen, haben einige Schriftsteller die Initiative zur Einberufung eines Kongresses ergriffen, um die Mittel zu ihrer Verteidigung zu prüfen und zu diskutieren. Ihr Ziel ist es, die Bedingungen des literarischen Schaffens und die Beziehungen des Schriftstellers zu denen, an die er sich wendet, genauer zu bestimmen.“ Dazu kam ein Arbeitsplan mit acht Punkten, der dann den Kongressablauf strukturierte.
Vielen Ideologen sträubten sich schon damals die Haare, und das hat nicht nachgelassen, wo der Pariser Kongress später kommentiert wurde: Das sei doch viel zu allgemein, jeder könne sich diesen Hut aufsetzen, auf ein solches Gerede solle man lieber verzichten, statt dessen die Spreu vom Weizen sondern und also präzis bestimmen, wofür und gegen wen man sich engagiere. Paris 1935 wurde groß und zur Legende jedoch zuerst, weil die Gefahren, gegen die das Engagement sich richten sollte, ebenso real wie allgemein waren und zwar auf verschiedene Arten empfunden und verstanden, aber als gemeinsame erkannt wurden. Später und bis heute sind dagegen immer wieder zuerst Glaubensbekenntnisse gefordert worden, bevor gemeinsames Handeln auch nur angeboten wurde – das führt zu nichts und ins Vergessen.
Hinzu kam, dass der Aufruf von Schriftstellern ausging und sich an Schriftsteller richtete – also an jene, die damals als die besten Spezialisten für die allgemeinen Fragen des Zusammenlebens der Menschen betrachtet wurden. Denen ist inzwischen die herausragende Rolle beim Bilden gesellschaftlichen Bewusstseins nicht ohne Gründe bestritten worden. Aber die neuen Medien oder die neuen Kunstrichtungen haben einzeln oder zusammen die Repräsentanz nicht erlangt, die damals den Autoren zuerkannt wurde: Eine Rede eines Romanciers, ein Interview mit einem (wie man noch sagte) „Dichter“ war ein Ereignis – die Teilnahme eines Schriftstellers an einer Talkshow ist es nicht.
Außergewöhnlich war der Pariser Kongress zudem, weil er am Ende einer Auseinandersetzung stand, in der sich Schriftsteller gegen politischen Einfluss von höchster Ebene durchsetzten. Weil Marxismus, Kommunismus und der damals einzige sich sozialistisch nennende Staat in vielen Reden als geistige Macht oder sogar Orientierung anerkannt wurden, hielt man den Kongress lange Zeit für eine Veranstaltung, hinter deren Kulissen die Kommunistische Internationale die Fäden zog. Aus den noch am Ende der Sowjetunion sich öffnenden Archiven war dann jedoch zu erkennen, was die Kongressorganisatoren selbst schon erfahren hatten: Stalin hatte zwar versucht, eine Veranstaltung und Organisation nach seinem Gusto auf die Beine stellen zu lassen – aber Jean-Richard Bloch, André Malraux, André Gide, Paul Nizan, Ilja Ehrenburg, Michail Kolzow, Johannes R. Becher, Alfred Kantorowicz und einige andere setzten ein Konzept durch, zu dem das Politbüro der KPdSU und das Exekutivkomitee der Komintern „Direktiven“ erst beschließen konnten, als alles schon öffentlich angekündigt war und ihnen nur noch die Bestätigung blieb. Das Selbstbewusstsein, solchem Einfluss widerstanden zu haben, kann inzwischen schon deshalb so groß nicht mehr werden, weil die Regierenden, zumindest in etlichen europäischen Ländern, das, was Schriftsteller tun, längst nicht mehr für so wichtig halten. In vielen Hinsichten, vor allem für die Arbeit der Schriftsteller, ist das sehr erfreulich. Aber die Herausforderung, die erst eine ernstzunehmende und ernst genommene Auseinandersetzung zu bieten vermag, fehlt. Stattdessen kann alles gesagt werden – und verschwindet gleich wieder im Gerede.
Nicht wiederholbar scheint der Pariser Kongress schließlich, weil in der Vorbereitung zwar Einflüssen aus Moskau zu widerstehen war – die meisten Teilnehmer die Sowjetunion aber als eine Möglichkeit betrachteten, (um noch einmal Gide zu zitieren) im Angesicht „einer unterdrückten, entstellten und leidenden Menschheit“ einen „Gesellschaftszustand zu entwerfen und anzustreben, wo die Freude allen zugänglich ist, Menschen zu entwerfen, die durch die Freude wachsen“. Der Kommunismus, der dort als Ziel proklamiert wurde, schien eine Alternative zu jenem Kapitalismus bilden zu können, der in Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise und die Zwangsregime geführt hatte, die nun – trotz Kant, Goethe oder Nietzsche – auch Deutschland formten. Mit dieser Erwartung ist es vorbei, und eine andere umfassende Alternative ist nicht in Sicht. Kongressen mit allgemeinem Veränderungsanspruch ist auch deshalb (soweit hatte Lyotard 1983 recht) inzwischen der Boden entzogen. Was bleibt, ist das Bemühen um Besserung im Einzelnen – wie der erwähnte Protest gegen Tendenzen zum Überwachungsstaat. Es fällt allerdings deutlich weniger auf.
Dennoch ist aus der Erinnerung an den seit jetzt achtzig Jahren vergangenen Schriftstellerkongress in Paris mehr zu gewinnen als entsagende Reflexion. Zuerst der Furor, mit dem Julien Benda – auch ein Redner 1935 – forderte, „aufrecht zu bleiben“ und dem Unrecht „das menschliche Gewissen entgegenzuhalten“. Dann jene Kritik an präzis benannter Unerträglichkeit, die in zahlreichen Reden 1935 geübt wurde: Erst aus der Summe der Kongressreden erwuchs ja dessen umfassender Anspruch, viele Redner versanken nicht in Allgemeinheiten und lieferten oft glänzende Beispiele einer auf Erfahrung und Wissen gegründeten konkreten Empörung (ich widerstehe der Versuchung, hier zu Unrecht vergessene und berühmte Namen zu reihen). Und schließlich ist, leider, auch Material darüber zu gewinnen, wie eine emanzipatorische Bewegung sich selbst vernichten kann. Die vier Reden, die im Folgenden ohne Kürzung nachgelesen werden können, wurden unter diesem letzten Aspekt ausgewählt.
Heinrich Mann, der am vorletzten Abend sprach, feierten vor seiner Rede stehende Ovationen als Repräsentanten des deutschen Exils (der Beifall wurde von den Organisatoren vorbereitet, aber vom Publikum sicher nicht auf Anweisung gezollt). Er stand für jene radikale Forderung nach Demokratie, die ihren Elan aus der brüderlichen ersten Phase der Französischen Revolution bezog, die am 14. Juli vor 226 Jahren begann und die deren Verbindung mit der Oktoberrevolution für möglich und zivilisatorisch wünschenswert hielt. Wenige Monate nach dem Kongress wurde er Präsident des Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront. Zwei Jahre später musste er zusammen mit den nichtkommunistischen Mitgliedern des Ausschusses über Walter Ulbrichts Taktieren nach Moskau schreiben: „Wenn diese Anmassungen, diese persoenlichen Verleumdungen und politischen Hirngespinste die einzige Antwort des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands auf die ernsten Vorhaltungen […] bilden, dann hat die K.P.D. selbst die Unmoeglichkeit einer Zusammenarbeit zum Ausdruck bringen wollen.“ Kurz darauf initiierte er einen Bund freiheitlicher Sozialisten, der die Brüche im deutschen Exil ebenso wenig zu überwinden vermochte. Öffentlich nahm er Hinweise auf Untragbares in der Sowjetunion jedoch bis ins nicht mehr Wahrnehmbare zurück und schrieb, sie verwirkliche eine große Idee.
Magdeleine Paz, die zu den Gründern der Französischen Kommunistischen Partei zählte und 1927 als Trotzkistin aus der Partei ausgeschlossen worden war, konnte auf dem Kongress nur dank der Unterstützung von Malraux und Gide überhaupt reden. Victor Serge, über den sie sprach, war für sie kein Einzelfall, sondern Opfer dessen, was inzwischen Stalinismus heißt und gegen das sie die Oktoberrevolution zu behaupten suchte. Ihre Rede, die hier erstmals auf Deutsch zur Kenntnis genommen werden kann, löste die schärfste Debatte während des Kongresses aus. Ehrenburg verkündete, das Schicksal des Einzelnen habe vor dem der Gesamtheit zurückzustehen; Anna Seghers forderte, statt von Serge von Ossietzky, Renn und Mühsam zu sprechen. Drei Tage später wurde Romain Rolland in Moskau von Stalin empfangen und forderte – ebenso wie Gide gegenüber dem sowjetischen Botschafter in Paris – Serges Freilassung. Sie war die einzige auf dem Kongress erhobene Forderung, die von einer Diktatur erfüllt wurde: Am 15. April 1936 konnte Serge aus der Sowjetunion ausreisen. Kurz darauf begann der Große Terror.
Gustav Regler hatte eigentlich über den historischen Roman sprechen sollen. Die rednerische Leidenschaft, mit der es als wichtiger ansah, die Niederlage zu bedenken, die seine Partei 1933 erlitten hatte, führte dazu, dass nach seiner Rede im Saal die Internationale angestimmt wurde. Seine Parteigruppe reagierte auf die Disziplinlosigkeit zwei Monate später mit einer Rüge wegen „unrichtiger wie besonders vor diesem Forum deplazierter Kritik an der Partei“, benannte ihn aber dennoch als deutschen Sekretär der neuen Schriftstellervereinigung. Anfang 1942, nun im Exil in Mexiko, machte Regler seine gewachsene Distanz von der Politik der Sowjetunion und seiner Partei öffentlich und galt dieser seitdem als „Renegat“.
Boris Pasternak wurde, zusammen mit Isaak Babel, erst nachträglich nach Paris entsandt. Ein (fast einstimmiger) Eilbeschluss des Politbüros war dafür erforderlich: Nach einer Absage Gorkis hatten Malraux und Gide fünf Tage vor Kongressbeginn gefordert, dass aus der Sowjetunion noch Schriftsteller von hohem Rang entsandt wurden. Für den Ruf dieses Landes leisteten die beiden viel. „Als er auftrat, sehr schön, ist der Engel erschienen, wirklich! Der Saal erhebt sich, ich habe nie eine so lange, so enthusiastische, so spontane Ovation vernommen“, erinnerte sich ein Zeuge. Pasternak selbst bezeichnete die Reise in einem Brief kurz danach als „einen Alptraum, einen Gang zur Kreuzigung, ich betrachte sie nicht als meine, sie hat nicht stattgefunden.“ Isaak Babel, in Paris ebenfalls gefeiert, wurde 1940 in Moskau erschossen. Das Lob der Poesie, das Pasternak vortrug und mit einer so knappen wie radikalen Kritik der Veranstaltung verband, auf der er sprach, war, vor Babel, der vorletzte Beitrag zum Tagesordnungspunkt „Die Verteidigung der Kultur“.
Dass auch eine solche nicht politische Position auf dem Kongress zur Sprache kommen konnte, hat zu dessen Ruf beachtlich beigetragen. An dem, was war, hat sie so wenig verändert wie die der engagierten Intellektuellen. Als Hinweis, auf das, was sein sollte, ist sie so wichtig wie diese. Aus beidem gewinnt der vor 80 Jahren abgehaltene Schriftstellerkongress noch heute eine Bedeutung, die selbst dann stark bleibt, wenn er nicht wiederholt werden dürfte.
Schlagwörter: Pariser Kongress, Schriftsteller, Stalinismus, Verteidigung der Kultur, Wolfgang Klein