von Bernhard Romeike
Der französische Finanzminister Emmanuel Macron hatte davor gewarnt, im Zusammenhang mit der Krise um die griechischen Finanzen „den Versailler Vertrag der Euro-Zone zu gestalten“. Nun war zu diesem Thema in dieser Zeitschrift vor einigen Wochen schon eine sehr deutsche Debatte um richtige und falsche Geschichtsvergleiche geführt worden. Der Minister hatte das Verfahren, nicht den historischen Ort gemeint: die EU-Institutionen und die anderen 18 Staaten der Euro-Zone beschließen etwas, und Griechenland bekommt das – „Friss oder stirb!“ – hingeworfen. Genau das sollte aus französischer Sicht verhindert werden. Angela Merkel wurde bei ihrer Pressekonferenz am Montag (13. Juli 2015) in Brüssel, kurz nach neun Uhr, nach 17 Stunden Verhandlungen, gefragt, was sie von diesem Vergleich halte. Ihre Antwort lautete: „An historischen Vergleichen beteilige ich mich nicht, besonders wenn ich sie nicht selbst aufgestellt habe.“
Die Spitzen der EU und der involvierten EU-Staaten traten an jenem Morgen vor die Presse, um jeweils die eigene Sichtweise brühwarm und möglichst medienwirksam zu präsentieren. Zunächst EU-Präsident Donald Tusk und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gemeinsam mit Jeroen Dijsselbloem, niederländischer Finanzminister und Vorsitzender der Euro-Gruppe. Sie teilen das Grundlegende mit: Es gibt einen Kompromiss, der Finanzbedarf Griechenlands in den nächsten drei Jahren liegt bei etwa 86 Milliarden Euro, der Weg zu Verhandlungen um Hilfen aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ist geöffnet. Juncker betont, die EU-Kommission habe „den Grexit (also den Ausschluss Griechenlands aus dem Euro – B.R.) nie akzeptiert“. Auch habe die Kommission immer wieder betont, dass Griechenland nicht nur eine Haushaltskonsolidierung brauche, sondern ebenfalls Wachstum und neue Arbeitsplätze. Deshalb stünden aus dem Programm der EU-Kommission auch 35 Milliarden Euro für Investitionen in Griechenland zur Verfügung.
Diese Aussage ist dem Grunde nach eine Abkehr von der rein fiskalischen Perspektive auf die Lösung des griechischen Problems, wie sie die griechische Regierung, Ministerpräsident Alexis Tsipras und der damalige Finanzminister Yanis Varoufakis, seit Monaten gefordert hatten. Schon deshalb war es wichtig, mit dem Ausstieg Griechenlands aus den vorherigen Verhandlungen und dem Nein bei dem Volksentscheid am 5. Juli einen neuen Verhandlungsprozess einzuleiten, der die einseitig neoliberale Logik der gescheiterten Programme verlässt und bestimmte Wirtschaftsförderungselemente einschließt. Die Durchführung der Weltrevolution stand in Griechenland ohnehin nicht auf der Tagesordnung. Und die Regierung Tsipras musste sich dem Spagat stellen – einerseits die bisherige Austeritätspolitik nicht fortzusetzen, andererseits aber beim Euro zu bleiben, den die Bevölkerung will. Dennoch zeigt das Referendum, dass Austeritätsprogramme auf demokratischem Wege nicht zu erreichen sind, wenn das Volk denn Gelegenheit erhält, über sein Schicksal zu entscheiden.
Bei den Äußerungen der anderen Spitzen ist besonders interessant, was sie gesagt und was sie nicht gesagt haben. Merkel betonte, es sei ein einstimmiger Beschluss der 19 Mitgliedsstaaten erzielt worden, „die Vorteile überwiegen die Nachteile“, und die „Grundprinzipien“ seien eingehalten worden. Dann erklärte sie, welche Auflagen Griechenland erfüllen müsse, damit der Kompromiss greife. Hörte man ihr zu, hatte Griechenland alles akzeptiert, was auch vor dem Referendum bereits auf dem Tisch lag. Es werde zudem einen „Treuhandfonds“ im Wert von 50 Milliarden Euro geben, in den Griechenland staatliches Eigentum einbringe, das privatisiert werden und zur Rückzahlung der ESM-Schulden dienen sowie zur Schaffung neuer Arbeitsplätze beitragen solle. Zu dem Schäuble-Papier, das am Sonntag, kurz vor Beginn des Gipfels, von Berlin aus in Umlauf gebracht worden war einen „zeitweiligen Grexit“ als zusätzliche Drohung an die Wand malend, sagte Merkel, da nun Plan A realisiert werde, bräuchten wir keinen Plan B. Ein Dementi war das nicht.
Werner Faymann, der österreichische Bundeskanzler, hatte bereits am Sonntagnachmittag, bei der Anreise zum Gipfel, dieser Schäuble-Idee eine Absage erteilt. Ein befristeter Ausschluss sei entwürdigend; dann könne man ja jedem Land zurufen, es solle mal eben ein Jahr aussetzen. Damit war klar gesagt: Wenn man Griechenland, obwohl es ordentliches Mitgliedsland der EU ist, einer Sonderbehandlung unterwirft und es praktisch als eine Schuldknechtschaftskolonie behandelt, dann ist dies ein Schicksal, das – Verträge hin oder her – unter anderen Umständen auch jedem anderen EU-Land zugemutet werden könnte.
Der französische Präsident, Francois Hollande, hatte ebenfalls bereits am Sonntagnachmittag diese Schäuble-Idee verworfen. Auch in seiner Pressekonferenz am Montag früh setzte er völlig andere Akzente als Merkel. Er betonte, dass es nicht nur um Griechenland, sondern um Europa gegangen sei, darum, dass „das Aufbauwerk Europas, das nach dem Krieg entstanden ist, fortgesetzt wird“. Dazu gehöre, die Euro-Zone zu erhalten, um Wachstum und Stabilität zu sichern. Frankreich sei immer darum bemüht gewesen, dass Griechenland in der Euro-Zone bleiben könne, wenn es das wolle. Auch die Einhaltung der „europäischen Regeln“ interpretierte Hollande ganz anders als Merkel: Es gehe darum, dass Griechenland Zugang zu den Finanzmitteln erhalte, die in der EU für Krisenfälle vorgesehen seien, und dass in Griechenland wieder Wachstum möglich werde. Griechenland sei und bleibe ein befreundetes Land, das Teil der europäischen Kultur und unserer Identität sei. Der Fonds werde der griechischen Verfügung nicht entzogen, werde seinen Sitz in Griechenland haben und von Griechen verwaltet werden, er diene als Sicherheit für die ESM-Kredite.
Noch deutlicher wurde der italienische Ministerpräsident, Matteo Renzi, am Montagmorgen. Befragt, ob es nur noch ein Land in Europa gibt, das alles bestimmt – gemeint war Deutschland –, sagte er, die heutige Nacht habe das Gegenteil bewiesen. Bei den Diskussionen habe viel auf dem Spiel gestanden. Und wörtlich: „Ein Fonds mit griechischem Vermögen kann nicht in Luxemburg verwaltet werden, von irgendeinem Kommissar.“ Das heißt, die ursprüngliche deutsche Idee, diesen Fond an die Treuhand-Konstruktion im Prozess der deutschen Vereinigung anzulehnen, war nicht auf Gegenliebe gestoßen. Und das zu Recht: Dort hatte sie bekanntlich zur aktiven Verschleuderung des DDR-Vermögens und zur Deindustrialisierung Ostdeutschlands beigetragen.
Deutsche Hegemonie in Europa ist in den EU-Verträgen nicht vorgesehen. Sie funktioniert daher nur so lange, wie die EU-Kommission und vor allem Frankreich den deutschen Interessen gefügig sind. Juncker und Tusk haben in dieser Nacht deutlich gemacht, dass sie die Union als Ganzes im Blick haben wollen, egal was Berlin meint. Und Hollande und Renzi haben sehr deutlich eigene Interessen wahrgenommen. Die Frage, ob es einen deutsch-französischen Dissens gegeben habe, wurde von Hollande und Merkel verneint. Die Kanzlerin fügte hinzu, sie habe in dieser Nacht genauso lange mit Hollande in Sitzungen verbracht, wie in Minsk (als es um den Waffenstillstand in der Ukraine ging). Ob sie aber beide diese Zeit über dasselbe von Tsipras wollten, ist damit nicht gesagt.
Und Syriza, Tsipras? In ersten linken Stellungnahmen ist die Rede von Niederlage, Unterwerfung, Erpressung, Enttäuschung. Vielleicht war es ja nach dem Wahlsieg von Syriza viel zu früh, bereits von einer Bresche in die Festung des Neoliberalismus zu reden. Warum sollten die Griechen, in einem kleinen Land am Rande der EU, schaffen, was die Linken in den reichen und großen Kernländern der EU nicht vermögen, nämlich den Kurs der Regierung zu ändern und neue Mehrheiten zu schaffen? Tsipras wird Ärger mit dem linken Flügel seiner Partei haben, er wird wohl die Regierung umbilden und eine Vereinbarung mit den Oppositionsparteien treffen müssen, die für die Krise und die gescheiterten Kürzungsprogramme verantwortlich sind. „Wir haben gekämpft“, hat er in Brüssel gesagt. Ob das gereicht hat, wird sich darin zeigen, ob es den Menschen in seinem Lande in drei Jahren besser geht oder nicht. Viel schlechter geht es eigentlich nicht mehr.