von Holger Politt, Warschau
Wer frühzeitig dachte, das Wahljahr in Polen würde auf vorgestanzten Bahnen verlaufen, ist nun blamiert. Entgleist ist bei der ersten Gelegenheit der Zug, der die letzten acht Jahre Regierungszeit, fünf Jahre Präsidentschaft, Wirtschaftsentwicklung, wo andere in der Krise versanken, und eine gewisse Stabilität im Schlepp hatte. Bei der Stichwahl für das Präsidentenamt unterlag Amtsinhaber Bronisław Komorowski seinem Herausforderer Andrzej Duda, den vor wenigen Monaten kaum jemand überhaupt richtig kannte. Die Gefolgschaft für den auf Sicherheit und Kontinuität setzenden Komorowski verweigerte eine Wählergruppe, die einst den Siegeszug der Wirtschaftsliberalen unter Donald Tusk über die Nationalkonservativen von Jarosław Kaczyński symbolisierte – junge Menschen bis 30 Jahre.
Allerdings hatte Janusz Palikot bei den Parlamentswahlen 2011 bereits empfindliche Breschen in die PO-Trutzburg geschlagen, als er mit linksliberalen Losungen mehrere Hunderttausend junge Menschen an sich zog, die der Ministerpräsidentenpartei überraschend verloren gingen. Palikot tat es mit Losungen und Forderungen, die auf die Einhaltung der Verfassung pochten. Vor allem stand die strikte, im obersten Gesetz vorgeschriebene Trennung von Kirche und Staat auf der Agenda. Eine linksliberale Forderung, die das in weltanschaulicher Hinsicht weitgehend konservativ gestrickte Regierungslager aus Wirtschaftsliberalen und Agrariern beispielsweise in der Frage der Homo-Ehe aus der Reserve zu locken vermochte.
2015 ist vom Palikot-Aufbruch nur noch ein Scherbenhaufen übrig. Weil auch die Linksdemokraten der SLD eher ein Schattendasein führen, meinten Beobachter weithin, die Konstellationen zwischen der PO und den Nationalkonservativen von PiS würden sich an den üblichen Trennlinien aufbauen – mit den entscheidenden Vorteilen für die PO in den großen Städten und unter den Zukunft suchenden jungen Menschen. Doch weit gefehlt. Während Stadt und Land sich weitgehend nach den zwischen beiden Parteien gewohnten Relationen ausrichteten, schlugen sich die jungen Wähler mehrheitlich auf die Seite des an Jahren noch jungen Herausforderers, der Veränderungen forderte, was sie mit Zukunft gleichsetzten.
Gleich nach den Wahlen beschwor PiS-Chef Jarosław Kaczyński den Wind der Veränderungen, der Polen ergriffen und Duda zum Sieg verholfen habe. Danach wurde er deutlicher: Der Sieg sei nicht bloß gegen eine andere Partei errungen worden, sondern gegen die versammelte Staats- und Medienmacht, die PO sich in den zurückliegenden Jahren unter den Nagel gerissen habe. Ein deutlicher Hinweis, so versteht er es, wie sehr überhaupt die vergangenen 25 Jahre seit dem Runden Tisch von 1989 auf den Prüfstand gehörten. Die eigene Partei nahm er in die Pflicht, bei den kommenden Parlamentswahlen im Herbst des Jahres dieser Stimmung Rechnung zu tragen. Beiläufig ließ Kaczyński auch wieder das Wort Budapest fallen, gewissermaßen als Erinnerung an alle, was auch in Warschau blühen könnte. (Wegen der ungarischen Russlandpolitik hatte er in den letzten Monaten Viktor Orbán die Gefolgschaft verweigert.)
Duda hatte während der Wahlkampagne darauf verwiesen, wie nötig eine neue Verfassung sei, denn die geltende stamme aus dem Jahre 1997, also aus der Zeit vor Polens Beitritt zur Nato und EU. Komorowski hingegen rief nach seiner Niederlage demonstrativ zur Verteidigung der Demokratie auf, was nicht verkehrt ist, doch erwähnte er die geltende Verfassung mit keinem Wort. Kann er auch nicht, denn er sprach sich – um doch noch junge Leute zu binden – inmitten der Wahlkampagne dafür aus, die Bürger über gravierende Verfassungsänderungen abstimmen zu lassen.
Bisher wird der Sejm nach Verhältniswahlrecht gewählt, Direktmandate sind dort unbekannt. Eine Änderung des Wahlrechts bedarf einer verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit im Parlament und der Unterschrift des Staatsoberhauptes. Das Abstimmungsergebnis hätte also zunächst nur symbolische Bedeutung. Doch glaubt man den jetzigen Umfragen, wäre unter der jungen Wählerschar der Zuspruch zu einem Parlament, in dem nur noch die Wahlkreissieger säßen, überwältigend. Zudem ging Komorowski ans Eingemachte, weil er den Bürger auch über die steuerfinanzierte Parteienfinanzierung entscheiden lassen will. Er ist sich noch immer sicher, auf diese Weise PiS das Steuer-Wasser abgraben zu können.
Es zeugt von bitterer Ironie der Geschichte, wenn die vornehmlich jungen „Wutbürger“, die sich nun auch in Polen immer mehr zusammenfinden, entschieden gegen angeblich ausufernde Steuerverschwendung zu Felde ziehen und dabei jene Partei als erstes treffen, die den ganzen neoliberalen Unfug von den unproduktiven Belastungen für den Staatshaushalt, die dann alle zu tragen hätten, in den zurückliegenden Jahren am erfolgreichsten unter die Leute gebracht hat. Nutznießer im Augenblick sind PiS und Polens designierter Präsident Duda, der geschickt die soziale Karte zu spielen verstand, weil er junge Leute insbesondere mit festen Arbeitsverträgen lockte, über die ein Präsident in Polen allerdings höchstens im Rahmen der wenigen Arbeitsplätze seiner Kanzlei selbst befinden kann.
Zu meinen, Polens Demokratie ließe sich verteidigen, indem der Staat noch schlanker werde, weil der PiS-Einfall genau von dieser Seite her drohe, unterstreicht, wie dünn das Eis mittlerweile geworden ist, auf dem die wirtschaftsliberale Vorherrschaft der letzten Jahre gründete. Indes sollte der Ausblick auf Kaczyński, der durch Dudas Wahlsieg nun wieder frei geworden ist, nicht täuschen: Das Präsidentenamt wird ab August wieder eine größere politische Bedeutung bekommen. Was immer gegen Duda sprechen mag – für den 42-jährigen spricht zumindest das Alter.
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